Dorothea Redepenning: Geschichte der russischen und der sowjetischen Musik, Bd. II (in 2 Teilbänden): Das 20. Jahrhundert, Laaber-Verlag, Laaber 2008, € 196,00, 836 S., Abb., Notenbsp., ISBN 978-3-89007-208-1
Mit angezeigtem Doppelband hat eine Arbeit ihren Abschluss gefunden, die in der Breite der Darstellung und der Durchdringung des Gegenstands grundlegend zu nennen ist. Bereits 1994 hatte die Autorin die „Geschichte der russischen Musik des 19. Jahrhunderts“ (als Band I) vorgelegt.
Inzwischen hat sich viel verändert: Eine Fülle an neuen Deutungen und Sichtweisen russischer und westlicher Forscher, oftmals auf der Grundlage von Archivforschungen, war hinzugekommen und auf die ein oder andere Weise einzubeziehen. Unter den Verhältnissen der Sowjetherrschaft präsentierte sich die historische Musikwissenschaft, zumal wenn sie sich der eigenen, der russischen beziehungsweise „sowjetischen“ Kultur widmete, als ein Fach, das ideologischen Vorgaben zu folgen hatte.
Nachdem diese Fessel abgestreift war, vollzog sich eine Verlagerung hin zu bislang vernachlässigten, ja verbotenen Interessensgebieten: Wurde zum Beispiel die Erforschung der russisch-orthodoxen Kirchenmusik zuvor unterdrückt und nur wenigen Spezialisten zugestanden, erlebte sie mit dem Zerfall der Sowjetunion einen ungeheuren Aufschwung, der erheblich auf das Verständnis der russischen „klassischen“ Musik des 19. Jahrhunderts zurückwirkte, hatte doch keiner der großen Komponisten (Peter Tschaikowsky, Nikolai Rimski-Korsakow u.a.) das Feld der Kirchenmusik übergangen.
So ist es folgerichtig, dass die Autorin die in Band I ausgesparte Kirchenmusik in einem eigenen Abschnitt („Die Synodalschule in Moskau und das Aufblühen geistlicher Musik“) gleichsam nachträgt und deren institutionsgeschichtliche Grundlagen zu Anfang des 20. Jahrhunderts skizziert.
Eine ausführliche Besprechung der beiden voluminösen Teilbände würde den Umfang einer Rezension sprengen. Daher sei im Weiteren nur ein allgemein gehaltenes Resümee mit Hinweisen zu den Inhalten und Schwerpunkten der Arbeit gegeben. Festzuhalten ist: Diese Publikation bietet die bislang ausführlichste und materialreichste Darstellung der russischen und sowjetischen Musik, die je in einer westlichen Sprache vorgelegt wurde. Die beiden Teilbände sind üppig ausgestattet unter Einbezug auch seltenen Bild- und Notenmaterials. Dadurch wird Musikgeschichte lebendig und verschafft auch dem Nichtfachmann, das heißt dem Liebhaber und an slawischer Kultur Interessierten, eine Vielzahl an Anregungen und Einsichten. Der erste der beiden Teilbände reicht in die frühen 1930er-Jahre, der zweite bis 1991, dem Jahr der Auflösung der Sowjetunion. Die thematische und zeitliche Gliederung des Stoffes ist wohlbegründet; so heißt eines der Kapitel „Auf dem Weg zur sowjetischen Musik (1917–1932)“, ein anderes „Von Stalins Tod bis zum Ende der Sowjetunion (1953–1991)“. Mehrfach eingestreute, methodisch-reflektierende Abschnitte ergänzen den auf Fakten und deren Verknüpfung ausgerichteten Gang der Darstellung. So thematisiert die Autorin zum Beispiel den seit Längerem recht vage für die Musik der 1920er-Jahre geltenden Begriff der „Avantgarde“ und gelangt zu dem plausiblen Befund, dass der strenge Avantgardebegriff, wie ihn der Romanist Peter Bürger in seiner „Theorie der Avantgarde“ entwickelte, hier nicht gemeint sein kann und letztlich ungerechtfertigt ist. Mag dem heutigen Leser das Beiwort „sowjetisch“, insoweit es politische Implikationen weckt, auch problematisch erscheinen, gibt es doch gute Gründe, weiterhin an der Bezeichnung „Sowjetische Musik“ festzuhalten.
Es fehlt an begrifflichen Alternativen, möchte man die Musik in Russland und der Sowjetunion in den Jahren zwischen 1917 und 1991 bündig fassen. „Sowjetische Musik“ bezieht streng genommen auch die nichtrussischen Unionsrepubliken ein. Dass die-se bei Redepenning allenfalls gestreift werden, verdankt sie einer historiographischen Konzeption, welche die russische Kultur entschieden in den Mittelpunkt stellt und „sowjetisch“ zuvorderst als Herrschaftssystem und Kulturideologie (Stichwort „sozialistischer Realismus“) begreift. Dem entspricht, dass der Zeitabschnitt zwischen 1932 und 1953, die „Musik im Stalinismus“, den größten Raum beansprucht (Kapitel III). Musik und Kulturpolitik werden dabei in der Darstellung aufs engste verzahnt; viel erfährt man über völlig unbekannte Opern, Kantaten und Oratorien (die repräsentativen „sowjetischen“ Gattungen), über Werke, die zwar als Kunst heute kaum Interesse beanspruchen können, aber doch interessante, teils auch faszinierende Dokumente ihrer Zeit sind.
Die großen „sowjetischen“ Komponisten Sergej Prokofieff und Dmitrij Schostakowitsch werden angemessen, aber vergleichsweise knapp abgehandelt, dieses wohl mit Blick darauf, dass es inzwischen zahlreiche gesonderte Arbeiten und Monographien über diese Meister gibt. Für die neueren Tendenzen der russischen beziehungsweise „sowjetischen“ Musik nach dem Zweiten Weltkrieg weist die Autorin dem Komponisten Edison Denisov (1929–1996) eine Schlüsselrolle zu. Die letzte Phase (bis 1991) wird unter dem Stichwort „Pluralismus“ der Stile und Ausrichtungen abgehandelt – ein Indiz dafür, dass der westliche Markt der künstlerischen Möglichkeiten auch in die Sowjetunion eingedrungen war und damit wohl indirekt auch zur Krise und zum Untergang dieses (einst weitgehend abgeschotteten) Imperiums beigetragen hat.