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Feiner Sinn für Klangfarben

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Zu einer kommentierten Ausgabe von Bachs „Canones“
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Autobiografische Bekenntnisse und ein geradezu anmaßend wirkender Richtigkeitsanspruch – zumindest in stilistischer Hinsicht – geben dem Leser von Reinhard Böß‘ ausführlich kommentierter Ausgabe von Johann Sebastian Bachs „Verschiedene Canones“ BWV 1087 zu denken.

Verschiedene Canones von J. S. Bach (BWV 1087), hrsg. v. Reinhard Böß, München 1996, edition text + kritik, ISBN 3-88377-523-1, 98 Mark Autobiografische Bekenntnisse und ein geradezu anmaßend wirkender Richtigkeitsanspruch – zumindest in stilistischer Hinsicht – geben dem Leser von Reinhard Böß‘ ausführlich kommentierter Ausgabe von Johann Sebastian Bachs „Verschiedene Canones“ BWV 1087 zu denken. Wie man der Selbstdarstellung des Autors entnimmt, hatte er sich bereits mehrere Jahrzehnte mit Bachs kanonischen Rätselwerken beschäftigt, als 1974 ein Originaldruck der Goldbergvariationen mit einem zusätzlichen autographen Notenblatt entdeckt wurde, das vierzehn musikalische Rätselaufgaben, überschrieben „Verschiedene Canones über die ersteren acht Fundamental=Noten vorheriger Arie von J.S. Bach“ enthält. Böß verwirft die bisherigen Auflösungen dieser Rätselkanons (vor allem in NBA V,2, hrsg. von Christoph Wolff) mit einer Vehemenz und Ausführlichkeit der „Fehler“-Nachweise, die ebenso überzogen wirkt wie sein Anspruch, seine Ausgabe biete eine „das Bachbild wesentlich verändernde Ergänzung“ und eine „wissenschaftlich wie musikalisch für Fachleute wie für Bachliebhaber notwendige Berichtigung“ (S. 14, vgl. auch S. 162). Gekrönt wird dieser Anspruch schließlich durch die Behauptung, das klangliche Ergebnis und somit Bach selbst autorisierten seine Auflösung der Rätselkanons (S. 10).

Böß‘ Kompetenz auf diesem Gebiet ist nicht anzuzweifeln. Seine Vertrautheit mit charakteristischen Zügen von Bachs kontrapunktischer Kunst, mit seinem musikalischen Humor, der vielschichtigen zahlensymbolischen Durchdringung seiner Musik und Bachs feinem Sinn für Klangfarben und ihren optimalen Einsatz im polyphonen Geflecht tritt im umfangreichen Kommentar deutlich zutage. Dennoch durchzieht die unauflösbare Spannung zwischen – bisweilen ins Sentimentale abgleitender – Pathetik und erschöpfender Wissenschaftlichkeit (vor allem in den zahlreichen Tabellen mit Zahlenkombinationen) die gesamte Ausgabe. Unangebracht scheint die ständige Bezugnahme auf Christoph Wolffs Ausgabe und die mitunter seitenfüllende Hervorhebung und „Berichtigung“ von Wolffs „Fehlern“ – der Rätselcharakter von Bachs Kompositionen fordert gerade die Vieldeutigkeit heraus; ein absoluter Richtigkeitsanspruch scheint hier fehl am Platze.

Eine beeindruckende – und für die Musikpraxis sehr nützliche – Leistung sind jedoch die Auflösungen im 145-seitigen Notenteil (zusätzlich noch ein siebenseitiger Anhang mit weiteren Beispielen). Böß hat hier in der Tat die gesamte Tiefe von Bachs Kanonkunst ausgelotet und bietet insgesamt 268 Lösungen, die sich zu einem den Goldberg-Variationen ebenbürtigen Gesamtwerk verbinden. Der Leser und Musiker kann sich dank Böß hier ganz in die komplexe Kunst Bachs versenken. Böß‘ Empfehlungen zur Instrumentation erweisen sich ebenfalls als äußerst hilfreich, da in einer Besetzung für zwei Cembali, Holzbläser, Viola und Violoncello das verschlungene Geflecht der polyphonen Linien durchhörbar wird.

Diese kanonisch-kontrapunktische Tour de force ringt dem Leser zweifellos Bewunderung ab. Schade, dass diese unweigerlich durch die unnötigen Invektiven gegen bereits bestehende Lösungsversuche eingeschränkt wird.

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