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Freie Sicht auf die polnische Musik

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Ruth Seehaber räumt auf mit dem Klischee von der „polnischen Schule“
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Ruth Seehaber: Die „polnische Schule“ in der Neuen Musik. Befragung eines musikhistorischen Topos, Böhlau, Köln 2009, 346 S., Abb., Notenbsp., € 42,90, ISBN 978-3-412-20430-3

Es gibt viele „Schulen“ in der Geschichte des Komponierens, von der Notre-Dame-Schule bis zur Wiener und zur Darmstädter Schule. Doch sind derartige Begriffe meist Behelfskonstruktionen einer Publizistik, die ein komplexes Phänomen für Uneingeweihte möglichst handlich aufbereiten möchte. Darauf verweist auch Ruth Seehaber im Einleitungskapitel ihres Buches über die neue polnische Musik der 1950er- und 60er-Jahre, die von der Kritik auch zur „polnischen Schule“ befördert wurde, und konsequenterweise benutzt sie den Ausdruck nur mit Gänsefüßchen. Ihr Ausgangspunkt ist die Karriere dieses Begriffs, doch weiten sich ihre Untersuchungen schnell zu einer spannenden Darstellung der Musik selbst und ihrer Rezeption in Deutschland aus.

Die „polnische Schule“ geistert seit Anfang 1957 durch die westdeutsche Presse. Damals berichtete der Autor Albert Kasch in der Zeitschrift „Musica“ über den ersten „Warschauer Herbst“ und fasste Komponisten aus zwei Generationen unter diesem Begriff zusammen: Mycielski, Sikorski, Woytowicz und Szeligowski aus der älteren, Serocki, Skrowaczewski, Spisak und Kilar aus der jüngeren Generation. Doch griff er damit nur eine polnische Redensart auf; denn auch in Polen sprach man gelegentlich von „polnischer Schule“, allerdings auch nur in feuilletonistischer Weise.

In der Bundesrepublik wurde die „polnische Schule“ dann hauptsächlich mit den Komponisten in Verbindung gebracht, die ab 1958 beim „Warschauer Herbst“ und bald darauf auch in den westdeutschen Avantgarde-Zentren Donaueschingen, Darmstadt und Köln in Erscheinung traten: Kotonski, Górecki, Penderecki und die bereits etwas älteren Serocki und LutosÅ‚awski. Nach dem Sensationserfolg von Pendereckis „Anaklasis“ 1960 in Donaueschingen gesellte sich zur „Schule“ auch der Sammelbegriff des „Sonorismus“ zur Charakterisierung der polnischen Avantgarde – auch das eine Bezeichnung, die zunächst in Polen benutzt wurde und im Westen, wo es weniger Detailkenntnisse gab, ebenso dankbar wie unkritisch übernommen wurde.

Die Autorin verweist mit Nachdruck darauf, dass solche Konstrukte der stilistischen Vielfalt der Werke nicht gerecht werden. Sie geht der Verwendung der Begriffe auf polnischer und auf deutscher Seite mit statistischen Methoden nach und fördert dabei neben Klischeebildungen auch viele aufschlussreiche Aussagen über die Musik zutage. Die linguistische Analyse ergänzt sie durch detaillierten Werkanalysen, in denen sie insgesamt zwanzig zwischen 1956 und 1974 uraufgeführte Kompositionen auf die von der Musikkritik behaupteten polnischen Stilmerkmale untersucht. Und auch hier lautet das Resultat: Viele Beobachtungen der Kritik sind zutreffend, aber die Individualität der Werke widersetzt sich jeder Klassifizierung durch Oberbegriffe.

Analytische und rezeptionsgeschichtliche Gesichtspunkte ergänzen sich in dieser Arbeit auf fruchtbare Weise, und es dürfte das erste Mal sein, dass polnische und westdeutsche Quellen in solcher Ausführlichkeit gesichtet und miteinander verglichen werden. Damit stellt die Publikation, über den musikalischen Erkenntnisgewinn hinaus, auch einen wertvollen Beitrag zum deutsch-polnischen Kulturaustausch dar. Eine für Polen entscheidende Phase der Neuen Musik, in der Werke entstanden, die auch auf Westeuropa unerhört bereichernd wirkten, wird damit nach fünfzig Jahren noch einmal mit großer Klarheit vergegenwärtigt.

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