Die Geschichtswissenschaft hat bislang allzu sehr auf das Auge gesetzt. Man „sieht“ historische Zeugnisse und „liest“ Quellen und Darstellungen. Aber Geschichte „hört“ man doch auch: Fast jedes Geschehen ist mit Geräuschen verbunden: Wir hören Stimmen, Musik oder Verkehrslärm und diese alle im Zusammenhang mit einem Ereignis. Was für den Einzelnen gilt, gilt mehr noch für die Geschichte der Völker: Markante Reden (Ernst Reuters „Völker der Welt“ von 1948) oder tönende Parolen in Demonstrationen („Wir sind das Volk“) rufen sofort historische Erinnerungen wach.
Der langsam wachsenden Erkenntnis, dass Geschichte auch „klingt“, trägt jetzt eine umfangreiche Edition der Bundeszentrale für politische Bildung (BpB) in geradezu animierender Art Rechnung. Unter dem Titel „Sound des Jahrhunderts“ haben Gerhard Paul, Historiker an der Universität Flensburg, und Ralph Schock, Musikredakteur beim Saarländischen Rundfunk, 83 Autoren – Historiker, Musikwissenschaftler, Medien- und Werbeprofis – zur Mitarbeit gewonnen, die in mehr als 100 Beiträgen zeigen, dass wir spätestens seit den ersten Tonaufnahmen (hier der jüngst gefundene O-Ton Otto von Bismarcks) von einer „tönenden“ Geschichte sprechen können, ja sprechen müssen.
Klang, Töne, Geräusche
Bewusst wurde der mehrdeutige Begriff „Sound“ gewählt, lassen sich doch darunter ebenso Klang (Musik, Glocken, Sirenen), Töne (Reden, Demonstrationen, Reportagen) als auch Geräusche (Verkehr, Kriegslärm) verstehen. Unterteilt ist das Buch in sechs Kapitel, in denen zunächst die Jahre von 1889 bis 1919, darauf die Jahre der Weimarer Republik und der NS-Zeit, die unmittelbare Nachkriegszeit, als größter Abschnitt die Zeit des Kalten Krieges und schließlich die heutige, von der digitalen Revolution geprägte Zeit behandelt werden.
Der Leser wird in ein faszinierendes Klangkaleidoskop hineingezogen. Nur summarisch kann auf die Fülle der oft exzellenten Beiträge eingegangen werden: Die Industrialisierung geht mit wachsendem Lärm einher; Eisenbahn und Automobil bestimmen mehr und mehr den Verkehr und geben den „roaring twenties“ geradezu ihr Charakteristikum; Fabriken inmitten der Städte belasten nicht nur die Luft, sondern auch das Trommelfell der Menschen; die Erfindung des Grammophons lässt Musik zur Massenkultur werden; die beginnende Zwölftonmusik, die stärkere Berücksichtigung von Geräuschen und die Arbeiten für den Film beeinflussen das Schaffen von Mascagni, Saint-Saëns oder Arthur Honegger („Pacific231“). Das Publikum ist irritiert, Strawinskys „Sacre“ wird als „Kunstprodukt für Kalmücken und Kirgisen“ beschimpft.
Grausamkeit des Krieges
Eine grausame Hörerfahrung vermittelt der Krieg: Kanonen „donnern“, Kugeln „pfeifen“, Projektile „surren“, Maschinengewehre „rattern“ und Granaten „heulen“ – eine Tonsprache, die bis heute gilt. Den Krieg auf dem Schlachtfeld ergänzt der Krieg im Äther: Zweiter Weltkrieg und Kalter Krieg geben intensive Beispiele. Richard Wagners „Walkürenritt“ diente wiederholt – zuletzt im Irakkrieg – dazu, die eigene Truppe anzufeuern und den Feind einzuschüchtern. Dass Musik auch ein Folterinstrument sein kann, machen chinesische Haftpraktiken und Guantanamo bedrückend deutlich.
Ganz anders die in den 20er-Jahren rasch populär werdende Rundfunkreportage; Reporter wie Alfred Braun in Deutschland oder Herbert Morrison in den USA (er übertrug 1937 die Katastrophe des Zeppelins „Hindenburg“ mehr stammelnd als redend) sind Legende geworden; Sportreportagen hatten magische Anziehungskraft (Herbert Zimmermann 1954 in Bern). Schließlich die politische Rede jedweder Couleur, Goebbels 1943 im Sportpalast („Wollt ihr den totalen Krieg?“) oder Kennedy 1963 in Berlin – hier spiegelt der Klang unmittelbar historisches Geschehen.
Das Buch bleibt nicht bei der großen Politik, sondern bringt auch amüsante Geschichten aus dem Alltag am Beispiel vieler zu „Ohrwürmern“ gewordener Schlager oder mancher tief ins Bewusstsein gesunkener Werbekampagne für Getränke, Waschmittel oder Versicherungen.
Das reich bebilderte Buch ist in Summa ein wunderbares Nachschlagewerk. Jedem Text ist eine Bibliographie beigegeben und im Anhang zudem eine Auflistung der zentralen Titel. Eine beigefügte DVD bietet die Möglichkeit, das Buch als PDF herunterzuladen und bringt überdies 82 Hörbeispiele und deren Fundstellen im Internet; zudem werden wichtige Soundarchive weltweit genannt. Der nicht über den Buchhandel vertriebene Band ist bei der Bundeszentrale für politische Bildung zum äußerst günstigen Preis von sieben Euro zu beziehen – fast geschenkt.
Sound des Jahrhunderts. Geräusche, Töne, Stimmen – 1889 bis heute, hrsg. v. Gerhard Paul/Ralph Schock, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2013, 630 S., Abb., DVD, € 7,00 (zzgl. € 4,60 Versandkosten), ISBN 978-3-83897096-7, bestellbar unter: http://www.bpb.de/shop/buecher/zeitbilder/170341/sound-des-jahrhunderts oder schriftlich bei: Publikationsversand der BpB, Postfach 501055, 18155 Rostock.