Wie kaum eine andere Bewegung hat Fluxus, primär von John Cage ausgehend und in ihren Ambitionen an der umwertenden Ästhetik des einstigen Dada orientiert, die neuere Geschichte der sogenannten musikalischen Avantgarde mitgeschrieben und beeinflusst. Stefan Fricke, mit vielen Wassern gewaschener Fluxist, legte nun ein „Guckheft“ vor, dessen Inhalte und dialogische Struktur (Plaudereien der Protagonisten Ute und Georg) auf einer von ihm realisierten Radiosendung von 1996 basieren.
Der Verlust der akustischen Seite dieser Veranstaltung ist zwar unersetzlich, lässt sich aber gerade im Falle eines fluxistischen Events grafisch kompensieren — spielt doch die Optik im Denken der Fluxisten keine dem Klingenden untergeordnete Rolle. Das Büchlein offeriert einerseits eine kleine Geschichte, deren Dramaturgie sich anhand der sporadischen, über die Jahre an verschiedenen Orten verstreuten Begegnungen, Telefonate und Schriftwechsel der Involvierten ergibt. Der Höhepunkt (auch, was die repräsentative Ausdehnung in der Publikation betrifft) wird in Georgs Wohnung erreicht. Nachdem dieser Emmett Williams zitiert hat („Nur Fluxisten können richtig fluxen“), wird’s so recht Nacht. Er: „Schläfst du?“ Sie: „Nein, ich werde wieder wacher.“ Und ab geht’s auf Nam June Paiks Bumstrip durch die kompletten Beethoven-Symphonien. Neunmal haben’s die beiden getrieben, in ziemlich verschiedenen Stellungen, darf der geneigte Leser schließen, wenn auch sehr unwahrscheinlicherweise mit dem ad libitum empfohlenen Partnerwechsel. Fluxus ist nicht einfach nur chaotisch, sondern voll menschelndem Geschäume — freie Liebe aller beteiligten Faktoren am blasphemischen Gesamtkunstwerk (welches die Paradoxie des Antikunstwerks stets einschließt) könnte eine zwar nicht unmissverständliche, aber gewiss angemessene Definition fluxischen Seins sein. Nun aber zum Bildungsauftrag: Fricke hat hier überdies seine Meriten als Historiker, indem ein gutes Drittel seiner Schrift aus einem klein gedruckten Anhang besteht, in welchem sich der weit überwiegende Anteil an objektiver Information über das gesamte relevante Drum und Dran findet. Wer sich hier (innerhalb weniger Stunden) durcharbeitet, wird nicht nur sehr kurzweilig bedient.
Es handelt sich schlicht um einen effektiven Crashkurs in Fluxus-Geschichte, rund um Fluxus-Diktator George Maciunas als Dreh- und Angelpunkt, verquickt mit Nam June Paik und der entblößten Charlotte Moorman, Beuys und Stockhausen, Schnebel, Ligetis Fluxus-Flirt und so weiter. Ja, das ist Frickes Verdienst: spielerisch in die Fluxus-Welt eingeführt zu haben, auf dass wahrlich nicht nur Fluxisten, sondern alle an diesem unscharfen historischen Phänomen Interessierten Gewinn daraus ziehen. Die sehr bibliophile Ausgestaltung ist ein weiterer Vorzug und dürfte in einiger Zeit „Musik mit Ei“ zum begehrten Sammlerobjekt werden lassen.
Übrigens: Was mir ästhetisch nicht allzu Maciunas-konform erscheint, ist die Trägerstory. Aber sei’s drum, wir wissen ja, dass Chaos und Ordnung in einem unbedingten Wechselverhältnis stehen und nur so der Weltenlauf weiterhin seinem Ende entgegendrängen kann.
- Stefan Fricke: Musik mit Ei — ein Guckheft über Fluxus und anderes, Pfau-Verlag, Saarbrücken 1999, ISBN 3-89727-067-6