Die NS-Politik, so konnten wir jüngst an dieser Stelle (nmz 11/00, S. 26) lesen, „lief darauf hinaus, Organisationen zu unterstützen, deren Ziele mit dem kulturpolitischem Programm übereinstimmten“. Mehr nicht? Verhielten sich die Nazis also wie fast alle Regierungen, die ihre Präferenzen durchsetzen? Aufatmen dürfen dann auch diejenigen, die die Rolle der deutschen Musikwissenschaft in diesen Jahren für problematisch hielten. Was so verwerflich schien, entpuppt sich nun als „notwendige Begleiterscheinung“ in einem überwiegend von Karriereinteressen geprägten Anpassungsprozess. Zum radikalen Bruch sei es nicht einmal 1933 gekommen. Warum also die ganze Aufregung?
Die Rezensentin präsentiert diese Ergebnisse aus Pamela M. Potters „überaus lobenswerter“ Studie (Die deutscheste der Künste. Musikwissenschaft und Gesellschaft von der Weimarer Republik bis zum Ende des Dritten Reiches) ohne jede kritische Einschränkung und ohne den Abstand zu bisherigen Forschungen zu problematisieren. Dabei kann ein genauer Leser dem materialreichen Buch Zitate entnehmen, die solche Grundthesen durchaus in Frage stellen.
„Auch Sie, wie so viele andere Wissenschaftler, haben mitgeholfen, die Mentalität vorzubereiten, die schließlich zu den Schlachthäusern und Gaskammern der nationalen Konzentrationslager geführt hat.“ Unverblümt schrieb dies 1949 aus dem USA-Exil der deutsch-jüdische Musikwissenschaftler Curt Sachs an seinen Kollegen Hans Joachim Moser, der während der NS-Diktatur antisemitische Ansichten verbreitet hatte. Moser war, wie Sachs bemerkte, kein Einzelfall. Fast die gesamte deutsche Musikwissenschaft hatte ihren Platz in der nationalsozialistischen Propaganda gefunden. Diese Anpassung eines ganzen Fachs an das System wurde nach 1945 mit Stillschweigen übergangen. Als nach 1968 kritische Studenten ein Interesse für solche Fragen zeigten, blockten die Ordinarien dies ab. Neben Cluytus Gottwald, Christoph Wolff, Michael Meyer, Eckhard John, Erik Levi und anderen gehört Pamela Potter zu den ersten Fachleuten, die sich systematisch dem heiklen Thema widmeten. Die positiven Seiten ihrer wichtigen Arbeit wurden in der Rezension von Barbara Pikullik schon gewürdigt. Indem Potter die deutsche Musikwissenschaft in ihren historischen Kontext stellt, widerlegt sie die verbreitete Auffassung, die Disziplin habe „unpolitisch“ bleiben können.
Das Problem der deutschen Musik gab der Arbeit den Titel. War aber die auf das 19. Jahrhundert zurückgehende Vorstellung von den Deutschen als einem „Volk der Musik“ nur eine propagandistische „Legende“? Ist die Fähigkeit deutscher Musiker, sich Fremdes anzueignen (Bach und Beethoven wären gute Beispiele), nur ein „Vorurteil“? Ist es gar möglich, beide Faktoren umstandslos als Voraussetzungen für Krieg und Holocaust zu deuten? Eben dies ist gemeint, wenn es heißt, die immanenten Interessen der Disziplin seien dazu benutzt worden, „um die Vorstellung deutscher Überlegenheit einzuimpfen und damit auch die Vernichtung der für minderwertig gehaltenen Subjekte zu rechtfertigen“ (S. 295). Obwohl dieser Satz dem zitierten Brief von Curt Sachs zu entsprechen scheint, lässt er ein entscheidendes Bindeglied außer Acht, das erst den legitimen Nationalstolz ins Furchtbare pervertierte: die NS-Rassentheorie. Da die Autorin den massiven Einbruch der Rassenideologie ab 1933 kaum ernst nimmt, kommt sie zu der erstaunlichen Feststellung, eine Entnazifizierung der deutschen Musikwissenschaft sei eigentlich unnötig, „weil sie im Dritten Reich an sich nicht ‚nazifiziert’ worden war, sondern einen Weg weiterverfolgte, den sie bereits vor 1933 eingeschlagen hatte“ (S. 232).
Zu den gravierenden Einschnitten des Jahres 1933 gehörte aber nicht nur die Gleichschaltung der Musikverbände. Neu definiert wurde auch die Vorstellung von Deutschland als dem Land der Musik: Hatte sie bis dahin selbstverständlich auch Künstler wie Felix Mendelssohn-Bartholdy, Joseph Joachim, Bruno Walter oder Arnold Schönberg umfasst, wurden nun unter dem Diktat der Rassentheorie „Nichtarier“ ausgeschlossen. Wenn Musikwissenschaftler wie Alfred Einstein auch im USA-Exil ihre gewachsene Bindung an die deutsche Musikkultur beibehielten, kann ihnen nicht der groteske Vorwurf gemacht werden, sie hätten damit „nationalsozialistische (!) Vorstellungen deutscher Überlegenheit“ nach Amerika gebracht. Im deutlichen Gegensatz zu den Nazis verbanden Männer wie Einstein ihre tradierte Bewunderung für die deutsche Musikkultur gerade nicht mit Rassendoktrinen. Als Curt Sachs in seinem zitierten Brief an Moser einen Zusammenhang herstellte zwischen Nationalismus und Auschwitz, meinte er nicht etwa seinen deutschnationalen Kollegen Einstein. Als entscheidend für die „Explosion“ bewertete er vielmehr die Rassentheorie, den „Zündstoff, der von Generationen betrügerischer Pseudo-Wissenschaftler wie Chamberlain, Woltman und Günther (...) gelegt und von Generationen von Lehrern und Professoren genährt worden ist“. Erst mit dem NS-Staat hatten diese Theorien offiziellen Status und politisches Gewicht erhalten.
Trotz solcher grundsätzlichen Einwände, einiger Sach- und Druckfehler (so figuriert die Berliner Musikhochschule als Konservatorium, der Verleger Hinrichsen als Hinrichson, der Architekt und „Rassenforscher“ Paul Schultze-Naumburg mit falschem Vornamen, Praktiker wie Hermann Unger und Fritz Jöde als Musikwissenschaftler und der Dirigent Peter Raabe gar als Liszt-Schüler) und trotz mancher Verallgemeinerungen („die Musikwissenschaftler“, „die Studenten“ etc.) enthält der Band eine Fülle wichtiger Informationen und Einsichten. Es empfiehlt sich allerdings eine nicht ganz unkritische Lektüre.