Peter Uehling: Karajan. Eine Biographie. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2006, 414 S., Abb., € 24,90, ISBN 3-498-06884-9
Ein Name, der jahre-, sogar jahrzehntelang als Synonym einer ganzen Branche galt: Karajan. Selbst jene, die mit Musik eines Mozart oder Beethoven, Wagner oder Sibelius nichts oder nur wenig anzufangen wussten, waren in der Lage, diesen Namen irgendwie zuzuordnen: Karajan, das bedeutete „Klassische Musik“. Umso verwunderlicher, dass ausgerechnet er, der wie kaum ein anderer seiner Zunft darum bemüht war, sich und seine Kunst auf diversen Medien post mortem zukunftstauglich zu machen, in relativ rascher Zeit vergleichsweise viel von seinem Ruhm verloren hat.
Peter Uehling, Kirchenmusiker und Musikkritiker aus Berlin, hat nun Karajans Leben neu erzählt und hebt gleich im Vorwort hervor, dies sei das „erste größere Buch über Karajan, dessen Autor den Dirigenten nicht mehr kennen lernen konnte“. Ob daraus automatisch eine „gesteigerte Objektivität“ erwachsen ist, darf jedoch bezweifelt werden.
Nach Richard Osbornes 1998 erschienener und 2002 erstmals ins Deutsche übersetzter Karajan-Biographie hat es Uehlings Buch zweifellos schwer und kann sich in Detailgenauigkeit, Materialfülle und Neuentdeckungen nicht mit Osborne messen. Daher verfolgt Uehling einen anderen Ansatz. Er setzt mehr auf die künstlerische Entwicklung des Dirigenten, er durchleuchtet sein Werkverständnis, vergleicht Plattenaufnahmen, sucht nach einer übergeordneten Klangästhetik. Keine Frage: Uehling hat, trotz einiger Unschärfen, Karajans musikalisches Vermächtnis gründlich durchforstet, hat Notentexte und deren Umsetzung auf Tonträger genau und urteilssicher einander gegenübergestellt. Ein Ansatz, der Anerkennung verdient, auch wenn sich dadurch bei der Lektüre einige Längen und Widersprüche ergeben. Dem Verfasser gelingt es, dank seiner präzise und klar formulierten Haltung, nachzuweisen, dass es Karajan vor allem bei seinen Beethoven- und Bruckner-Deutungen weniger um „die Individualität der einzelnen Werke“ ging als vielmehr um ein übergreifendes, mitunter sogar übergestülptes Konzept. Für Uehling ist Karajan „kein analytischer Dirigent im Hinblick auf die Details, auf die Entwicklung von Motiven, auf den Zusammenhang der Partikel“. Vielmehr tritt die „Gegenständlichkeit der Themen“ hinter „der Abstraktion elementarer Formen zurück“. Auf diesem Hintergrund wertet der Autor beispielsweise Karajans Mahler-Erkundungen überaus kritisch. Allerdings sehnt sich der Leser gerade hier nach Vergleichen, vor allem mit den Einspielungen von Karajans Generationskollegen Leonard Bernstein und Georg Solti, die mit ihren Produktionen dem Mahler-Boom Ende des 20. und am Beginn des 21. Jahrhunderts entscheidend den Weg geebnet haben.
Überhaupt sind die Vergleiche zu den Schwachstellen dieses Buches zu zählen. Allzu oft werden lediglich die vermeintlichen Antipoden Furtwängler und Toscanini als Bezugsgrößen aufgeführt, wobei Toscanini durchweg auf fast penetrante Weise abgestraft wird. Zwar arbeitet Uehling stellenweise mit Metronomangaben und gemessenen Sekunden, doch bleibt die übergeordnete Einordnung des Karajan’schen Vermächtnisses lückenhaft. So spielen etwa Klemperer und Bruno Walter in seiner Untersuchung keine Rolle, ebenso wenig Giulini oder, gerade bei Bruckner schmerzlich vermisst, Günter Wand.
Um die Glaubwürdigkeit oder, dem entgegen, die Widerspruch weckende Ausrichtung seiner Urteile stärker hervorzuheben, wäre ein gelegentlicher Blick auf die fast zahllosen Äußerungen der Musikkritik sinnvoll gewesen. Doch dem verweigert sich Uehling konsequent, er bemüht weder Rundfunkarchive noch Tagespresse oder Fachjournale. Gerade hier aber hätte der Autor Pionierarbeit leisten können, da eine solche Betrachtung der Karajan-Rezeption bis heute aussteht. Umgekehrt jedoch zeugt Uehlings Vorgehensweise von gesundem Selbstbewusstsein. Er vertraut allein den eigenen Höreindrücken – und verleiht so dem Ganzen eine eben doch betont subjektive Ausrichtung. Im Vorwort begründet Uehling dieses methodische Vorgehen mit der Bemerkung, dies sei ein „Buch, das nicht Material herbeischafft, sondern sich der Reflexion widmet“.
Dadurch bleiben allerdings einige Aspekte von Karajans Dirigentenleben unterbeleuchtet. Jene Dirigenten, die von und bei Karajan mehr oder minder intensiv gelernt haben, werden lediglich namentlich erwähnt. Auch Karajans Förderung junger Solisten spielt, mit Ausnahme der Exkurse über Anne-Sophie Mutter und Sabine Meyer, keine Rolle. Hier wäre Gelegenheit gewesen, das „Phänomen Karajan“ aus mehrperspektivischem und somit auch Distanz schaffendem Blickwinkel zu betrachten.
Insgesamt ein Buch, das Bewunderung und Verwunderung gleichermaßen hervorruft, das ebenso glänzend geschriebene Passagen enthält wie einige diffuse Abschnitte, die nach Präzisierung verlangen. Uehlings Ansatz, den Künstler Karajan in den Vordergrund zu stellen, ist mutig und dürfte manchen Musikerbiographien zum Vorbild gereichen, auch wenn die Umsetzung noch einiger Modifizierungen bedarf. Editorisch ist es sicher ein Mangel, dass der Leser am Ende auf eine Liste der diskographischen Angaben verzichten muss, nachdem er zuvor so viel über Karajans Einspielungen en detail erfahren hat.