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Beethovens Vermächtnis: Mit Beethoven im Exil. Bericht über das internationale Symposium Bonn

Beethovens Vermächtnis: Mit Beethoven im Exil. Bericht über das internationale Symposium Bonn, 1. bis 3. März 2018 mit einer Edition der gleichnamigen Studie von Paul Bekker, hrsg. von Anna Langenbruch/Beate Angelika Kraus/Christine Siegert (Schriften zur Beethoven-Forschung, Bd. 32), Beethoven-Haus, Bonn 2022, 471 S., € 78,00, ISBN 978-3-88188-167-8

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Im Exil und in der Diaspora

Untertitel
Zu einem Beethoven-Symposium 2018 in Bonn
Vorspann / Teaser

Beethovens Vermächtnis: Mit Beethoven im Exil. Bericht über das internationale Symposium Bonn, 1. bis 3. März 2018 mit einer Edition der gleichnamigen Studie von Paul Bekker, hrsg. von Anna Langenbruch/Beate Angelika Kraus/Christine Siegert (Schriften zur Beethoven-Forschung, Bd. 32), Beethoven-Haus, Bonn 2022, 471 S., € 78,00, ISBN 978-3-88188-167-8

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Beethoven gehörte zu unserem geistigen Gepäck, als wir 1933 fliehen mussten. Das sagten emigrierte Musiker*innen immer wieder, wenn sie über ihr Exil nach der Machtergreifung des NS-Regimes berichteten, als es sie in die ganze Welt, mitunter bis ins ferne Shanghai, verschlug. Beethoven sei gleichsam der Anker gewesen, der sie weiterhin mit der deutschen Kultur verbunden habe.

Mit Beethoven im Exil

Im traditionsreichen Beethoven-Haus in Bonn ist sowohl die eigene Geschichte während der NS-Zeit als auch das Thema Exil ziemlich lange vernachlässigt worden. Jetzt ändert sich das allmählich. „Mit Beethoven im Exil“ hieß ein Symposium im März 2018, auf dem so unterschiedliche Fragen wie persönliche Schicksale in der Emigration, musikalische und wissenschaftliche Arbeit im Exil und Wiederannäherung an die alte Heimat nach 1945 behandelt wurden. Jetzt liegen die zwanzig Beiträge in dieser lesenswerten Edition vor.

Anlass für das Treffen war ein fast sensationell zu nennender Fund der Musikwissenschaftlerin Anna Langenbruch von der Universität Oldenburg. Bei Recherchen im Centre historique in Paris stieß sie 2007 auf eine als verschollen angesehene Studie des einflussreichen Beethovenbiographen Paul Bekker (1882–1937) mit dem Titel „Beethovens Vermächtnis“. In einem Dialog mit einem imaginären Gegenüber äußert er, dass Beethovens Musik ihre Aura infolge der „Mechanisierung“ durch neue Techniken verloren zu gehen drohe – ein Gedanke, den nur ein Jahr später Walter Benjamin über die „Reproduzierbarkeit des Kunstwerks“ geäußert hat. Bekkers Schrift ist hier in voller Länge abgedruckt, was das Buch zusammen mit einigen weiteren Dokumenten zusätzlich wertvoll macht.

Es ist unterteilt in vier Rubriken. Die ersten vier Texte zu Beethoven in Exil und Diaspora zeigen, wie sehr die weltweite Wertschätzung Beethovens den Exilierten teilweise einen Neuanfang erleichterte. In der Sowjet­union beispielsweise waren Kurt Sanderling, Fritz Stiedry, Leo Blech oder Otto Klemperer gefragte Interpreten und Chefs großer Orchester. Selbst in Shanghai, wo sich unter 18.000 geflüchteten jüdischen Emigranten (China war damals das einzige Land ohne Einreisebeschränkungen!) etwa 450 Musiker*innen befanden, lebte unter deren Mitwirkung klassische Musik auf. Wie schwierig die Wiederannäherung im Nachkriegsdeutschland war, zeigen die unterschiedlichen Reaktionen auf Yehudi Menuhins Auftritt 1947 in Berlin und Adolf Buschs Konzert 1949 beim Bonner Beethovenfest: uneingeschränkter Jubel hier, verhaltene Reak­tion dort.

Aufführungspraxis

Bei Fragen der Aufführungspraxis kann man bei Dirigenten wie Kleiber und Fritz Busch von Pionieren des chilenischen Musiklebens sprechen, gaben sie doch von 1937 bis in die 1950er-Jahre regelmäßig Gastspiele. Die meisten Beiträge liest man angesichts der oft schweren Schicksale nicht ohne größere Anteilnahme, so auch den Text über die Beethoven-Verehrung bei Arnold Schönberg, den Violinvirtuosen Rudolf Kolisch und über das von dem Emigranten Walter Levin gegründete LaSalle Quartett.

Mit Staunen lernt der Leser die Sammelleidenschaft von Stefan Zweig kennen, der bis zur Emigration nicht weniger als 26 Beethoven-Memorabilien in seinem Besitz hatte, darunter als besonderen Schatz dessen Schreibtisch! Sie alle sind hier aufgelistet! Ein schöner Text befasst sich mit dem in Theresienstadt umgekommenen Musiker und Mediziner Kurt Singer (1885–1944). Von seinem geplanten Opernbuch hat sich ein Abschnitt zu „Fidelio“ erhalten, der ebenfalls hier abgedruckt ist und der in hochdramatischer Sprache das Werk analysiert.

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Beethovens Vermächtnis: Mit Beethoven im Exil. Bericht über das internationale Symposium Bonn

Beethovens Vermächtnis: Mit Beethoven im Exil. Bericht über das internationale Symposium Bonn, 1. bis 3. März 2018 mit einer Edition der gleichnamigen Studie von Paul Bekker, hrsg. von Anna Langenbruch/Beate Angelika Kraus/Christine Siegert (Schriften zur Beethoven-Forschung, Bd. 32), Beethoven-Haus, Bonn 2022, 471 S., € 78,00, ISBN 978-3-88188-167-8

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Persönliche Schicksale bringt die letzte Rubrik, so eine Korrespondenz zwischen dem schon genannten Paul Bekker und Leo Kestenberg, dem großartigen Reformer im preußischen Kultusministerium, ferner ein Beitrag zur Pionierarbeit der aus Berlin stammenden Edith Gerson-Kiwi für die Musikwissenschaft in Palästina und schließlich einen Text über den Kritiker des „Berliner Tageblatt“ Alfred Einstein (1880–1952), der in den USA heimisch wurde, wovon ein witziger Sketch zwischen Beet­hoven und einem US-Gewerkschaftsboss zeugt.

Migrationsforschung

Am Ende stehen zwei Texte zu Exil und Migrationsforschung, zunächst zur schmählichen und auch nach 1945 unrühmlichen Rolle des Bonner Beet­hoven-Hauses gegenüber Exilierten und Geflüchteten; und dann zum Abschluss ein eindringliches Plädoyer des Migrationsforschers Joachim Schlör, der in der Musik, „gerade bei Beethoven“ einen wesentlichen Antrieb für eine weitere Aufarbeitung vergessener oder vernachlässigter Themen sieht: „Beethoven als Symbol, als  ,marker‘ für etwas Größeres, das vielleicht ‚deutsche Kultur vor 1933‘ heißen könnte, ohne Nazis, ohne die Verseuchung der Sprache und der Musik“.

In der Tat regt dieser Tagungsbericht mit seiner Fülle an Informationen auch die Musikwissenschaft dazu an, sich noch stärker in die Migrationsforschung einzubringen. Schon hier ertappt sich der Leser dabei, ständig im Internet ergänzende Informationen einzuholen. Wie groß das Wissen ist, das die Exilforschung doch schon zusammengetragen hat, zeigt dieser Band. Sein einziges, allerdings sehr bedauerliches Manko ist das Fehlen eines Autor*innenverzeichnisses – unverzichtbar bei einem so weitgefassten Thema!

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