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Andreas Doerne: Musikschule neu erfinden. Ideen für ein Musizierlernhaus der Zukunft, Schott, Mainz 2019, 224 S., € 24,95, ISBN 978-3-7957-1685-1
Andreas Doerne: Musikschule neu erfinden. Ideen für ein Musizierlernhaus der Zukunft, Schott, Mainz 2019, 224 S., € 24,95, ISBN 978-3-7957-1685-1
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Impulse zur Weiterentwicklung

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Zwei Neuerscheinungen regen zum Nachdenken über die Musikschule an
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Zwei neue Publikationen thematisieren die Positionierung von Musikschulen in einer im Wandel befindlichen Gesellschaft und liefern damit interessante Impulse für zukünftige Musikschulentwicklung. In ihren Argumentationen für musikalische Bildung als notwendigen Beitrag einer humanistisch gebildeten Gesellschaft nehmen die beiden Autoren spannende und durchaus unterschiedliche Perspektiven ein.

 „Die öffentliche Musikschule in Deutschland im Begründungszusammenhang kultureller Bildung“ ist die Druckfassung einer Wiener Dissertation von Hans-Joachim Rieß. Als langjähriger Geschäftsführer des Landesverbands Hessen im Verband deutscher Musikschulen (VdM) setzt er sich mit der gesellschaftlichen Relevanz von (öffentlich finanzierten) Musikschulen nach den Prinzipien der kulturellen Bildung auseinander. Andreas Doerne, Professor für Musikpädagogik an der Hochschule für Musik Freiburg, entwickelt in seinem Buch „Musikschule neu erfinden“ die Musikschule als offenes Lernhaus für eine selbstbestimmte Lernpraxis weiter.

Ausgangspunkte der Überlegungen Doernes sind individuelle und vielfältige Lern- und Praxiserfahrungen sowie die Selbstverantwortung für den eigenen Bildungsprozess, deren Erfordernisse den Lernort Musikschule neu definieren. Dieses Musizierlernhaus beschreibt er als Träger einer neuen Kultur ähnlich einem Laboratorium, und bildet damit Ideen und Konzepte, die er seit 2012 gemeinsam mit Musikschulpädagoginnen und -pädagogen weiterentwickelt (www.musikschullabor.de), erstmals umfassend ab.

Doerne betont, dass es in seinem Buch um eine Idee geht, der ein radikales Neudenken der Institution Musikschule zugrunde liegt. Insgesamt 29 Bausteine dieses Musizierlernortes werden im Hauptteil des Buches teilweise weiter vertieft. Darunter finden sich zentrale Kategorien wie Spiel, Freiheit, Individuum, Kooperation, Teams und Lerngemeinschaften, denen aktuelle musikpädagogische Forschungsergebnisse zugrunde gelegt werden.

Neue Impulse

Auch wenn viele dieser Bausteine grundsätzlich nicht neu sind, finden sich neue Impulse, interessante Herangehensweisen sowie praktische Umsetzungsbeispiele. Bausteine wie digitale Medien und Musikproduktion nutzt Doerne beispielsweise, um einen Konnex zwischen virtuellen Lernbereichen und räumlichem Lernhaus zu knüpfen, und er zeigt einen möglichen musikpädagogischen Mehrwert an Beispielen wie multimedialen Lernportfolios sowie analogen oder digitalen Lerntagebüchern.
Auch ein konkreter architektonischer Entwurf dieses Hauses ist im Buch abgebildet, der neben Unterrichtsräumen auch Medienräume, Hör- und Tonstudios, Sonic Boxes, einen Instrumentenfundus und eine Hörlounge aufweist. Im Zentrum des Musizierlernhauses steht die Silent Arena, eine Art musikbezogenes Gemeinschaftsatelier mit unterschiedlichen Silent-Instrumenten als zentraler Überaum, Unterrichtsplatz und musizierpraktisches Austauschforum. Hier soll nicht nur unterrichtet, sondern selbständig gelernt, gehört, ausprobiert, kreiert, gemeinsam musiziert werden und dies so oft und wann man möchte.

Ein Lernort, der sich in diesem Ausmaß flexibel, situativ, offen und vielfältig präsentiert, regt zu vielen Fragen an. Wie kann die neu zu gestaltende Präsenzzeit der Lehrenden organisiert und gestaltet werden? Welche Kompetenzen benötigen Lehrende für eine Anleitung zum selbstbestimmten Lernen in vielfältigen Musizierformen und -genres? Was bedeutet die Bündelung von Ressourcen an einem physischen Ort in volatilen Zeiten? Doerne setzt sich mit Aspekten dieser Fragen auseinander. Gleich einem Musikschul-Experiment wird die Leserschaft aber in erster Linie dazu aufgefordert, neue Blickwinkel auf Musikschularbeit einzunehmen.

Hans-Joachim Rieß zeichnet in seiner umfassenden Arbeit die Konzeptionen öffentlicher Musikschularbeit im 20. Jahrhundert bis zum heutigen Zeitpunkt nach und setzt sich in diesem Zusammenhang auch intensiv mit deren musikpädagogischen Grundlagen auseinander. In den ersten zwei Kapiteln geht er zunächst auf Grundprinzipien kultureller Bildung ein – Ganzheitlichkeit, Selbstwirksamkeit, ästhetische und künstlerische Erfahrung, Stärkenorientierung, Partizipation und selbstgesteuertes Lernen in der Gruppe.  Die nachfolgenden sechs Kapitel spannen einen historischen Bogen von den Volksmusikschulen zu Beginn des 20. Jahrhunderts über die Musikschulen für Jugend und Volk des nationalsozialistischen Deutschlands und den Wiederaufbau der Jugendmusikschulen nach 1945 bis zu den öffentlichen Musikschulen des Verbands deutscher Musikschulen.

Spannungsfelder

Ausgehend von der Musikschule als neuartige Musikschulform, die „die Lücke zwischen schulischem und privatem Musikunterricht schließen sollte“, arbeitet Rieß die Institution Musikschule und das stets vorhandene Spannungsfeld in der Musikschularbeit zwischen musikalischer Bildung und Nachwuchsförderung deutlich heraus. Die Konzeptionen von Kretzschmar, Kestenberg, Jöde und Twittenhoff sind im deutschsprachigen Raum als Grundlagen musikpädagogischer Arbeit bekannt. Neu ist die konsequente Bezugssetzung zur Musikschularbeit und die daraus ablesbare Entwicklung der musikpädagogischen Strukturen und ihrer Akteure, insbesondere hinsichtlich der Positionierung öffentlicher Musikschulen.

Sein Hauptaugenmerk legt Rieß immer wieder auf konkrete pädagogische Inhalte, deren Strukturen und die kulturellen Bildungsleistungen der Musikschulen in der jeweiligen Zeit. In diesem Zusammenhang widmet er sich auch den kulturpolitischen Zielsetzungen und Maßnahmen. Er schließt mit einem Aufruf an Musikschulen, ein musikpädagogisches Gesamtkonzept voranzutreiben und aktiv mitzugestalten. Als Grundlage für dieses Zusammenwirken von elementarer Musikpädagogik, Schulmusik, Musikvermittlung und Musikschule positioniert er mit diesem Buch die Prinzipien kultureller Bildung als zugleich fachlich fundiertes wie auch gesellschaftlich relevantes Orientierungssystem.

  • Hans-Joachim Rieß: Die öffentliche Musikschule in Deutschland im Begründungszusammenhang kultureller Bildung. Eine ideengeschichtliche Untersuchung vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Bosse Verlag, Kassel 2019, 453 S., € 39,95, ISBN 978-3-7649-2836-0
  • Andreas Doerne: Musikschule neu erfinden. Ideen für ein Musizierlernhaus der Zukunft, Schott, Mainz 2019, 224 S., € 24,95, ISBN 978-3-7957-1685-1

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