Soundcultures. Über elektronische und digitale Musik,
herausgegeben von Marcus S. Kleiner und Achim Szepanski,
edition suhrkamp, Frankfurt/Main 2003 (mit CD), € 12,-,
ISBN 3-518-12303-3
Der Name ist Programm: das Frankfurter Avant-Techno-Label „Mille Plateaux“ bezieht sich auf den gleichnamigen Theorie-Reader der einflussreichen „Anti-Ödipus“-Autoren Gilles Deleuze und Félix Guattari; dass es Label-Chef Achim Szepanski nicht nur um experimentelle Kompositionen im unerhörten Trance- und Ambient-Kosmos geht, sondern auch um Diskurse rund um mediale Musiken und die sozialen Praktiken, die sie zur Voraussetzung und Folge haben, das zeigt jetzt der sehr lesenswerte Suhrkamp-Sampler „Soundcultures“.
Elektronische Sounds sind Musik jenseits der Notenschrift; das hieß lange aber auch: unabhängig von Reflexion und historischem Bewusstsein. An deren Stelle trat eine Augenblickhaftigkeit, deren „theoretische“ Ausflüsse der redselige Stolz des Handwerkers und wüste kosmologische Spekulation waren. Nicht nur Stockhausen wuchs ein drittes Ohr, das ihn zum Sirianer machte.
„Soundcultures“ ist die vielleicht erste ernsthafte Bestandsaufnahme neuer elektronischer Musik. Wer wissen möchte, was ihre technischen Voraussetzungen und Bedingungen sind, findet hier genügend Material. „Soundcultures“ liefert aber auch einen kurzen, kundigen Abriss der Geschichte der Maschinen-Musik von den ersten Anfängen bei den Futuristen um Marinetti, die als wüst-vitalistische technophile „Übermenschen“ in missverstandener Nietzsche-Nachfolge die Geräusche der industriellen Moderne zu urbanen Klang-Opern verdichten wollten, über die „musique concrète“ eines Pierre Henry und ihre Konsequenzen für ein „ent-subjektiviertes“ Komponieren bei Messiaen und Stockhausen und das von ZEN und Zufall bestimmte Spätwerk John Cages bis hin zu den vielen Spielarten synthetischer Sounds in der Popmusik seit den späten 60er-Jahren.
Wen also interessiert, was Hammond-Orgel und Moog-Synthesizer aus dem Rock’n’Roll machte, wie und warum teutonische „Klang-Robotiker“ wie „Kraftwerk“ die anglo-amerikanische Pop-Welt veränderten, wie aus R’n’B erst Soul, dann Funk und schließlich Disco wurde und was es mit dem Mitte der 80er-Jahre entstehenden und sich rasch in immer neue Sub-Genres ausdifferenzierenden House- und Techno-Reich auf sich hat, der wird hier fündig. Im Zentrum aber steht die Clicks & Cuts-Ästhetik des Mille-Plateaux-Labels, deren Einfluss seit Jahren zuerst untergründig im Milieu der Clubs und Pop-Theoretiker, zuletzt aber auch im akademischen und Feuilleton-Kontext zunimmt. Frank Ilschner stellt sie in den Zusammenhang avantgardistischer Kompositionsmodelle von Stockhausen, Xenakis oder Cage, zeigt, wie sie direkt von Detroit Techno und Acid House beeinflusst wurde und dass sie eine Klangerzeugung favorisierte, die dezentriert und für Zufälle offen war und all die Dramaturgien und Ideologien des Pop-Mainstream systematisch vermied. Dass eine Clicks & Cuts-Ästhetik auf Reduktion und Klang-Minimalismus setzt, ist unüberhörbar. Rolg Großmann nennt aber noch eine zweite Gemeinsamkeit der Mille-Plateaux-Acts: nämlich die „Verwendung medienreflexiver, direkt aus Speicherung, Übertragung oder elektronischer Produktion der Medien abgeleiteter Klänge“. Während der schöne Schein von der Stummheit seiner Medien lebt, von der Idee des „reinen“, durch Produktion und Übertragung nicht beeinträchtigten Klangs, setzt die Clicks & Cuts-Ästhetik gerade auf den Fehler im System, all die Störgeräusche, die zum Lauf der Welt (und der Maschinen) gehören. Die große Theorie, auf die sich Szepanski und Co. beziehen, also vor allem Deleuze/Guattari, aber auch Lacan, Bataille oder McLuhan, „politisiert“ die Herstellung und Distribution von Klang: dem Imaginären und Symbolischen, das üblicherweise für die „kulturelle“ Einbettung von Musik in den Alltag sorgt, aber eben auch das Hören kodiert und in ein Korsett zwängt, wird misstraut; es kommt zu Rettungsversuchen des „Realen“ – das, was man in der Informationstheorie „Rauschen“ und in der Physik „Chaos“ nennt –, was aufregend und fatal ist. Denn das „Reale“ ist das, was sich der Zurichtung, dem Nutzen und der Ratio entzieht, was in jedem System als Rest, Abfall, Müll, „Trash“ bleibt; es ist (bei Nietzsche und Bataille) der Überschuss, der das Leben ausmacht und der in Festen, Rausch, Erotik, aber eben auch in Grausamkeit und Krieg explosiv verausgabt wird; es ist aber auch (bei Lacan) der Ort der Psychose, des Wahns, dem sich die Poeten und Musiker, wenn sie nur „begeistert“ genug sind, gefährlich nähern.
Das Paradox der Maschinen-Musik besteht nun gerade darin, dass sie einerseits (scheinbar) ein Effekt strengster binärer Kodierung ist, dass sie nur Programm, Algorithmus, Serie zu sein scheint, dass aber andererseits schon bei Stockhausen und Cage das Andere der Ordnung, das Zufallsereignis, zur Essenz des Klangs wird: das, was der Komponist erreichen will – und was er nur erreichen kann, wenn er sich der Komposition verweigert. Die meisten Aufsätze in „Soundcultures“ widmen sich der Materialität der Musik, deren Momente Kodierung (Aufnahme) und Dekodierung (Abspielen) sind, außerdem den Programmen, ihren Verfeinerungen und den Überraschungen (Zufällen, Störungen), die sie immer mitproduzieren. Rudolf Maresch aber weist in seinem Aufsatz „Waves, Flows, Streams. Die Illusion vom reinen Sound“ darauf hin, dass Musik niemals in der beziehungsweise durch die Klangmaschine entsteht, sondern immer erst in der „Affektmaschine“ Mensch; auch in technoiden Sound-Universen bleibt das Ohr unentbehrlich; und durch das Ohr kommt der „Schmutz“ in die Welt der Töne, all das Andere der Musik, das sie erst wirksam macht. Mareschs Konzept der Musik ist beides: radikal romantisch, also auf Stimmung, „feeling“ aus, und radikal politisch im Bewusstsein, dass kein Geräusch nur für sich steht/spricht, sondern immer schon dienstbar ist den eigenen Wünschen genauso wie den vermachteten Interessen der Anderen.
Wer Angst hat, sich im weiten Mille Plateaux-Universum und den recht avancierten Diskurs-„Waves, -Flows- und Streams“ zu verlaufen, den mag die „Betriebsanleitung“ trösten, die von den Autoren direkt der einst äußerst populären „Rhizom“-Programmschrift Deleuzes/Guattaris entnommen ist: „Das Buch ist kein Bild der Welt (...), auch nicht mehr Einheit des Sinns (...). Findet die Stellen in einem Buch, mit denen ihr etwas anfangen könnt. (...) In einem Buch gibt’s nichts zu verstehen, aber viel, dessen man sich bedienen kann.“