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Gerhard Müller: Bagatellen für B. Der Komponist Reiner Bredemeyer, Verlag Neue Musik, Berlin 2022

Gerhard Müller: Bagatellen für B. Der Komponist Reiner Bredemeyer, Verlag Neue Musik, Berlin 2022

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Karnevalismus einer Epoche

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Der Komponist Reiner Bredemeyer im Porträt
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Den vielen Deutschen, die vom Osten in den Westen übersiedelten, stand die kleinere Zahl derer gegenüber, welche den umgekehrten Weg gingen. Zu ihnen gehörte der Komponist Reiner Bredemeyer. Geboren 1929 in Kolumbien, wo sein Vater als Ingenieur arbeitete, wuchs er in Breslau auf. Nach dem Krieg übersiedelte die Familie nach München. Hier machte ihn Anfang 1947 sein Mitschüler Reinhold Kreile, später Generaldirektor der GEMA, mit Karl Amadeus Hartmann bekannt. Dieser wurde neben Hindemith zum frühen Vorbild, mehr als Karl Höller, sein Kompositionslehrer an der Akademie für Tonkunst. Zusammen mit Josef Anton Riedl gründete Bredemeyer 1951 die Gruppe München der Jeunesses Musicales, jener internationalen Organisation, die sich seit Kriegsende um Völkerverständigung bemühte. Tiefen Eindruck machten ihm die jährlichen Jeunesses-Treffen in Aix-en-Provence, wo er Künstler wie Andrés Segovia, Peter Pears, Benjamin Britten, Luigi Nono und Bruno Maderna erlebte.

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Frustriert über restaurative Tendenzen der Adenauer-Regierung nahm Bredemeyer im April 1954 an einer Konferenz des Komponistenverbandes der DDR teil. Hier traf er Paul Dessau, dessen „Courage“-Bühnenmusik ihn in München beeindruckt hatte. Er suchte die Nähe dieses Komponisten und zog deshalb nach Ost-Berlin. Dessau wurde sein Mentor und lebenslanger Freund, obwohl er auch Meisterschüler bei Rudolf Wagner-Régeny war. Das assoziative, oft aphoristische Komponieren, das Hanns Eisler an Bredemeyers Musik kritisiert hatte, passte gut zum Theater. So wurde die Bühne zur Lebensform des Komponisten. Als Leiter der Schauspielmusik am Deutschen Theater Berlin schuf Bredemeyer von 1961 bis 1994 für die Regisseure Wolfgang Langhoff, Benno Besson, Friedo Solter und Adolf Dresen rund 120 Bühnenmusiken, dazu Liedprogramme für Schauspieler.

In seiner Musik für Theater, Hörspiel und Film verwandte er gerne Verfahren der Collage und Montage. Diese nutzte er auch in seinem Orchesterwerk „Bagatellen für B.“, einem Beitrag zur Beethoven-Ehrung 1970. Material aus zwei Bagatellen des Meisters kombinierte er mit Akkorden aus der „Eroica“, um das konventionelle Beethoven-Bild in Frage zu stellen. Mit diesem Werk wurde Bredemeyer, den man bis dahin fast nur als Theater-Musiker kannte, endlich auch im Konzertsaal wahrgenommen. Nachdem die „Bagatellen für B.“ 1975 als sein erstes gedrucktes Werk bei Peters Leipzig erschienen waren, gab es vermehrt Aufführungen. 1978 wurde der Komponist ordentliches Mitglied der Akademie der Künste der DDR. Ein Jahr später schrieb Frank Schneider, Bredemeyer gehöre zu den bekanntesten Musikerpersönlichkeiten der Republik. Charakteristisch für ihn sei das Aufspüren und Austragen musikalischer „Querstände“.

Konflikte und Widersprüche entdeckte „Brede“ in der Musik wie in der Gesellschaft. Er verstand sich als politischer Künstler in der Nachfolge Brechts, dessen Lehrstück-Idee er wie Dessau mehrfach aufgriff. Nach Voltaires Roman „Candide“ schuf er 1982 eine als DDR-Satire erkennbare Oper, die 1986 in Halle uraufgeführt wurde. Angeregt durch eine Veröffentlichung von Ute Wollny, seiner späteren Frau, beschäftigte er sich mit dem Vormärz-Dichter Wilhelm Müller, den Bredemeyer als eminent politisch wahrnahm. Da er meinte, Franz Schuberts Vertonung von Müllers Gedichtzyklus „Die Winterreise“ würde eine klare politische Lesart geradezu verhindern, schuf er eine Neufassung für Sänger, Klavier und Horn, die 1985 im Berliner Schauspielhaus herauskam. Es folgte „Die schöne Müllerin“ als tragische Elegie.

Der Autor und Musikdramaturg Gerhard Müller ist ein intimer Bredemeyer-Kenner, hat er doch bei mehreren Werken mit dem Komponisten zusammengearbeitet. Müller zufolge avancierte etwa ab 1970 „Karnevalismus“ zum Geist der Epoche: „In dem Maße, in dem sich die Kluft zwischen humanistischer Perspektive und zurückbleibender sozialer Praxis vergrößerte, nahmen die künstlerischen Produktionen karnevalis­tische Züge an.“ Als karnevalistisch gelten nicht zuletzt Bredemeyers Dokumentarstücke, in denen er Zitate unter anderem von Gorbatschow, Kurt Hager, Manfred Wörner und Helmut Kohl aufgriff. Als Höhepunkt des Karnevalismus betrachtet Müller den November 1989, den der Komponist in einem „Abschlussbericht“ bissig kommentierte. Kohls Verheißung „blühender Landschaften“ verarbeitete er in der instrumentalen Satire „Aufschwung OST“. Kurz vor seinem Tod schrieb Bredemeyer 1995, er sei „durch die ‚Wende‘ endgültig von der Illusion befreit, Musik könne irgendwelche Veränderungen auslösen“.

Kurze und übersichtliche Kapitel, ergänzt durch Selbstäußerungen, Kommentare und Erinnerungen von Freunden und Kollegen, und eine präg­nante Sprache machen diese „Bagatellen für Bredemeyer“ auch für ein breites Publikum attraktiv. Eine systematische Darstellung nach musikalischen Gattungen ist geschickt mit der biographischen Erzählung verbunden.

  • Gerhard Müller: Bagatellen für B. Der Komponist Reiner Bredemeyer, Verlag Neue Musik, Berlin 2022, 330 S., Abb., 32,80 Euro, ISBN 978-3-7333-2756-9

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