Thomas Kabisch: Chopins Klaviermusik. Ein musikalischer Werkführer, C.H.Beck, München 2021, 128 S., € 9,95, ISBN 978-3-406-76523-0
Die Klaviermusik Chopins hat wie kaum eine andere Spuren in der Musikgeschichte hinterlassen, traditionsbildend gewirkt. Dank ihrem Lyrismus und ihrer Klangsinnlichkeit genießt sie bis heute Popularität und gehört zum Stammrepertoire des Konzertlebens.
Thomas Kabischs Darstellung widmet sich ebenso den Schaffensgrundlagen des Komponisten wie den einzelnen Werkgattungen, etwa Mazurka, Nocturne und anderen, die er in knapper Form porträtiert, begleitet von exemplarischen, gut nachvollziehbaren Analysen (bei denen der Leser, da Notenbeispiele fehlen, den Notentext zur Hand haben sollte). Dabei werden interessante Akzente gesetzt: Die Mazurka, eine von Chopin neu kreierte Gattung, deutet Kabisch in einem Spannungsfeld von polnischer Folklore und Universalitäts-Streben, die Polonaise als eher theatralische Aktion denn Tanz, den Walzer als eine von „Bewegungsvorgängen“ zehrende, virtuos aufgezäumte Nobilitierung des genannten Tanztypus‘.
Den sozialen Ort von Musik Chopins bestimmt Kabisch in der Welt des Pariser Salons (der 1830er/40er Jahre), wo das gepflegte Gespräch dominiert, wo Grellheiten, Provokationen und Exzesse keinen Platz haben. Dessen ungeachtet ist Chopins Kunst alles andere als weich oder verschwommen, sondern auf besondere Art entschieden und „präzise“: „Sie verlangt von Spielern und Zuhörern eine Feineinstellung der Wahrnehmung“ (S. 12).
Überzeugend gelingt es Kabisch, Chopins Schaffen als Vorschein der (französischen) Musikmoderne zu interpretieren. Seine zentrale Kategorie ist das „figurative Komponieren“ – ausgeformt in einer Satztechnik, die sich üblichen harmonischen, rhythmischen und formtheoretischen Analyseverfahren eher verschließt als ihnen entgegenkommt. Anders gesagt, es geht um ein Komponieren, das nicht vordergründig diskursiv-rational agiert, sondern Entscheidendes im „Improvisieren und im Umgang mit der Struktur des Instruments“ hervorbringt: „Struktur und Improvisation, Stimmführung und [pianistische] Haptik greifen ineinander“ (S. 30).
Unter diesem Vorzeichen lassen sich Chopins „große“ Gattungen, die Sonaten, Balladen und Scherzi, dann allenfalls bedingt durch traditionelle Denkmuster wie Entwicklung, thematische Arbeit oder Sonatenform erschließen. Ihnen stellt Kabisch, ebenso anschaulich wie begründet, die Vorstellung funktionaler Parataxen, von Formbildung durch Figuration und „instrumentalem Rollenspiel“ zur Seite. Einen Gipfel besitzt das „figurative Komponieren“ in den Etüden (opp. 10 und 25) und den Präludien (op. 28) – Stücken, deren monotypische Fakturen eine Verselbständigung figurativer Prozesse andeuten. Die Faktur, die initial gesetzte Spielfigur, rückt hier ins Zentrum des Geschehens, gerät in ein Spannungsverhältnis zur Stimmführung, um recht eigentlich alle Komponenten des Tonsatzes zu absorbieren. In dieser Hinsicht wird einmal mehr der Bezug zur Improvisation plausibel, erhellt sich aber auch Chopins eigentümliche, oft erwähnte Affinität zu Johann Sebastian Bach (während er mit der Musik Mozarts nichts anzufangen wusste).
Insgesamt: Ein glänzender Werkführer, der nicht nur Basis-Informationen zu Chopins Schaffensvoraussetzungen und seinen einzelnen Gattungen liefert, sondern mancherlei tief auslotende Anregungen zum Weiterdenken.
- Thomas Kabisch: Chopins Klaviermusik. Ein musikalischer Werkführer, C.H.Beck, München 2021, 128 S., € 9,95, ISBN 978-3-406-76523-0