Text. Notation. Performance – Interdisziplinäre Perspektiven, hrsg. von Rosa Eidelpes (Diskurse. Kontexte. Impulse. Publikationen des Elfriede Jelinek-Forschungszentrums, Bd. 23), Praesens Verlag, Wien 2021, 313 S., € 37,00, ISBN 978-3-7069-1134-4
Zu den Mythen eurozentrischer Hochkultur gehört die „absolute Musik“. Dabei ist diese paradox: Denn alles Tönende vollzieht sich in Zeit und Raum unter vielfältigsten historisch-gesellschaftlichen, materiellen wie geistig-technischen Voraussetzungen. „Absolut“ kann sie demnach nicht sein. Es sei denn, man erhebt sie zur Religion. Aber selbst dann bleibt das Problem der Vermittlung. Basieren doch vor allem die drei großen monotheistischen Glaubensrichtungen auf schriftlicher Überlieferung, „Heiligen Büchern“. Talmud, Bibel, Koran.
Ebendies proklamierte Hans von Bülow: das Wohltemperierte Klavier und die Beethoven-Sonaten seien „das Alte und das Neue Testament des Klavierspiels“. Doch der alleinseligmachende Kanon unsterblicher Meisterwerke lässt Risse erkennen. Zumindest der klassische Authentizitäts-Dreischritt: einsame Autorschaft, ewig gültige Hervorbringungen, verantwortliche (Star)Interpreten entsprach einem gläubigen Traditions-Kult, dessen Basis allmählich schrumpft – und mit ihm auch der Fetisch „Werktreue“. Denn sowohl das „Werk“ wie die ehrfurchtgebietende Verpflichtung diesem gegenüber sind nicht mehr unstrittig, zumindest diffus geworden. Sind doch gerade die höchsten Werte schriftlich überliefert: Religion, Philosophie, Literatur, Musik, Theater; selbst Filme basieren auf Drehbüchern, und noch in der Malerei spricht man von „écriture“. Doch die gedruckten Dokumente sind nicht Emanationen des Weltgeists pur, sondern Fixierungen innerhalb eines zweidimensionalen Zeichen-Systems, das jeweils dechiffriert sein will. Was man gemeinhin „Werk“ nennt, ist zunächst kaum mehr als der Schnittpunkt von Notation und Rezeption, ja Tradition.
Dass die musikalische Trinität von Schöpfer, Artefakt und auratischer Reproduktion an Triftigkeit verloren hat, liegt nicht nur an der Krise des Werkbegriffs schon im 19. Jahrhundert (etwa in den Fassungs-Problemen bei Mussorgski, Liszt und Bruckner, der bröckelnden Tonalität), sondern auch an einer Art historischen Spagat: Hat die „authentische Aufführungspraxis manch philharmonische Gewissheit schwinden lassen, so haben Multimedialität, Computer und Video-Technik ästhetische Eindimensionalität vollends obsolet werden lassen, somit auch die traditionell enge Fachkritik. Wobei man nicht zuletzt in Wien den Eindruck gewann, dass dort zweifelsfreier war, was Kunst war, und was nicht. Allerdings gab es unter dem Himmel voller Geigen stets auch Opposition, sei es der Aktions-, wie Literatur-„Gruppen“ oder der „Nestbeschmutzer“ Thomas Bernhard und Elfriede Jelinek.
In deren Namen gibt es einen „interuniversitären Forschungsverbund“, der sich 2020/21 dem Komplex „Text. Notation. Performance“ widmete. Dessen „interdisziplinäre Perspektiven“ sind nun, von Rosa Eidelpes ediert, herausgekommen. Sie kreisen nicht nur um Jelinek, wohl aber spielt für diese, also auch hier, Musik eine erhebliche Rolle. Die Vielfalt der insgesamt 24 Beiträge, so heterogen wie letztlich zusammenhängend, macht sie so animierend: als Suche nach der Realität von Kunst zwischen den dialektischen Polen von Schriftlichkeits-Ursprung und labyrinthischer Präsenz.
Notation gehört zur E-Musik, Sprech-Theater, sogar Tanz, erst recht Literatur, konserviert also kulturelle Hervorbringungen, macht sie dadurch aber auch zur sterilen „Konserve“ oder „Papiermusik“. Dabei werden in einer Partitur keineswegs nur Notenwerte fixiert: Sprach-Suggestion, Grafiken mit bildlichem Eigenwert („visible music“) oder immer spezifiziertere instrumentaltechnische Anforderungen werden gleichrangig. Bei Hans-Joachim Hespos dienen bizarre Wortfindungen („versprillt“) der Intensivierung der gewünschten Klang-Aktion, bei Lachenmann eine Art Alphabet von Zeichen der Präzisierung des Geräuschhaften. Die „Zusätze“ werden essentiell. Das traditionelle Bild des demiurgischen Künstlers, der an seinem Schreibtisch unmissverständlich immanent seine Botschaft kodifiziert, schwindet. Überhaupt ist Entsubjektivierung zentral geworden: Elfriede Jelineks Texte etwa sind in vielerlei Richtung offen, Material, nicht Intention. Folglich hat Klaus-Peter Kehr recht: „zwischen Notation und Aufführung ist ein Riesenschritt“. Deshalb kann man diese weder aufschreiben noch als Aufzeichnung authentisch bewahren.
Zu den eminenten Qualitäten dieser Texte gehört, dass sie Fragen stellen, verunsichernd wirken statt Gewissheiten beschwören. Der multimediale ästhetische Diskurs zielt aufs hier und heute, soziologische Traditions-Aspekte bleiben mit gutem Grund randständig. Allenfalls die Überlegungen zur Film-Musik im Dritten Reich gehen auch ins Historische. Nicht aber zielen die Reflexionen auf aktualisierenden Aktionismus. Zurecht beharrt Sybille Krämer auf der kulturhistorisch untilgbaren, zugleich weiterwirkenden Kreativität des Skripturalen, von der ja auch dieser Band zeugt. Selbst Adorno, Verfechter ästhetischer Autonomie, monierte, dass das noch so gültig existierende Werk erst durch „Interpretation“, Exegese wie Realisierung, zum „Werk“ werde. Insofern schwebt ein Satz von ihm fast als Memento auch über diesem Band. „Die Gestalt ästhetischer Utopie heute: Dinge machen, von denen wir nicht wissen, was sie sind.“
Zum quidproquo-Assoziations-Rahmen des Bandes gehört auch das Umschlags-Bild: Elfriede Jelinek meditativ mit der Hand auf dem Orgel-Manual – fast Zitat einer Surrealismus-Ikone: Max Ernsts „Heilige Cäcilie“ (1923), in einer Orgel als Märtyrerin ummauert. Kaum lässt sich die Erinnerung an Michael Hanekes Film „Die Klavierspielerin“ mit der unvergleichlichen Isabelle Huppert abweisen: die Tasten-Künstlerin als Opfer ihrer masochistischen Obsession.