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Christian Gerhaher: Halb Worte sind’s, halb Melodie. Gespräche mit Vera Baur, Seemann Henschel/Bärenreiter, Leipzig/Kassel 2015, 177 S., € 22,95, ISBN 978-3894879426
Christian Gerhaher: Halb Worte sind’s, halb Melodie. Gespräche mit Vera Baur, Seemann Henschel/Bärenreiter, Leipzig/Kassel 2015, 177 S., € 22,95, ISBN 978-3894879426
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Kompromisslose Kunstauffassung

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Im Gespräch mit Vera Baur legt der Sänger Christian Gerhaher Zeugnis ab
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Die Jahre, in denen große Liedsänger wie Dietrich Fischer-Dieskau, Hermann Prey oder Peter Schreier die Konzertsäle füllten, sind vorbei. Große Stimmen werden derzeit vor allem mit der Oper verbunden; der Liedgesang wird nicht mehr als unerlässlich für ein abgerundetes Künstlertum empfunden. Anders der 1969 in Straubing geborene Bariton Christian Gerhaher; er sieht sich noch immer, trotz erfolgreicher Opernauftritte an zahlreichen Bühnen, vor allem dem Lied und dem Oratorium verpflichtet. Die vielen Auszeichnungen, die er seit etwa 15 Jahren erhalten hat, beziehen sich fast ausschließlich auf den Liedsänger Gerhaher.

Er hat Philosophie und Medizin studiert und ist promovierter Arzt. Doch ebenso zog Gerhaher der Gesang an, und frühe Erfolge in seiner bayerischen Heimat bewogen ihn, ganz auf die künstlerische Karte zu setzen. Vielleicht wegen der räumlichen Nähe kam er in Kontakt mit dem Sinfonieorches-ter des Bayerischen Rundfunks, mit dem er seit 2003 regelmäßig konzertiert. Nach mehreren Gesprächen hatte die dortige Redakteurin Vera Baur die Idee, Gerhaher für eine größere Publikation zu Themen wie Künstlertum heute, zu Lied und Oper und zu bevorzugten Komponisten zu befragen. Als Titel wurde der Beginn eines Eichendorff-Gedichtes gewählt.

Das Titelbild ist fast symptomatisch; ein ernstes Gesicht stimmt unwillkürlich auf zwölf konzentrierte Gespräche ein. Sie gehen vom Biographischen über den Liedgesang allgemein und Fragen der Ausbildung bis zu Gerhahers besonders geschätzten Komponisten, allen voran Robert Schumann, Franz Schubert, Gustav Mahler und Arnold Schönberg. Dabei macht er es sich und dem Leser nicht immer leicht; man spürt hinter seiner streng rationalen Argumentation das Philosophiestudium, in der mühelosen Erklärung physiologischer Vorgänge beim Singen den examinierten Arzt.

Skeptisch zeigt er sich gegenüber dem allgemein zu beobachtenden Drang zu Gleichmacherei und Nivellierung: „Ich finde, es gehört zum Leben dazu, dass es kompliziert ist und am Ende als Rechnung nicht aufgeht.“ Ob damit zusammenhängt, dass Schumann sein „Lieblingskünstler“ ist? Von ihm sei er begeistert, „die Musik und die Person Schumanns sind für mich das Größte“. Bei ihm entwickele sich etwas Neues und ganz Eigenes, nämlich die vertonten Gedichte in einen Zusammenhang zu stellen, der von keinem Dichter so gewollt wurde – etwa die Kerner-Lieder, eine „intellektuelle Kunstform“, „die das Begreifen zum Erleben macht“. Zu den schönsten Passagen des Buches gehört das geradezu enthusiastische Bekenntnis zu Schumanns „Szenen aus Goethes Faust“, von dessen gedanklichem Reichtum er sich ebenso animiert zeigt wie von dem „ungeheuren“ musikalischen Farbreichtum. Verärgert zeigt er sich über die verbreitete Kritik, das Werk sei schwach und altersmüde („bornierte Formalismusenthusiasten werden diesen paradigmatischen Künstlertypus Schumann wohl nie verstehen“), konstatiert aber zugleich erfreut, dass inzwischen ein Umdenken eingesetzt habe.

Ebenso begeistert ist er von Schönbergs „Buch der hängenden Gärten“ („für mich einer der zauberhaftesten Werkkomplexe“) und von Mahlers großen Liederzyklen, wobei, so seine neugierig machende Anregung, neben der jeweiligen Orchesterfassung gleichrangig auch die nur vom Klavier begleitete Fassung stehe. Ziemlich unwirsch sagt er zu Johannes Brahms, dessen beliebte Volksliederbearbeitungen gingen „stark in Richtung Entertainment und Entmündigung des Zuhörers“, und völlig ablehnend äußert er sich über die „größtenteils nichtssagenden“ Lieder von Richard Strauss. Auf ihn gemünzt sagt er, die Erfindung des Orchesterliedes sei letztlich die Perversion des Liedes!

Das Buch zeugt von einer kompromisslosen Kunstauffassung des Sängers. Daraus resultiert eine Unbedingtheit, die mitunter auch zu schroffen Urteilen führt und zu Widerspruch reizt, etwa bei Stimmbildung und Atemführung oder bei der Ansicht, eine Sänger-ausbildung müsse mit Lied und Oratorium beginnen und nicht, wie heute fast die Regel, im Opernensemble. Aber viel größer ist die angenehme Erfahrung, einen so klugen, große Liedzyklen so tief empfindenden und gleichzeitig den gängigen Kulturbetrieb trotz aller Erfolge so nüchtern sehenden Künstler zu erleben. Und man schwört sich, die nächs-te Aufführung von Schumanns Faust-Szenen auf keinen Fall zu versäumen.                                            

  • Christian Gerhaher: Halb Worte sind’s, halb Melodie. Gespräche mit Vera Baur, Henschel/Bärenreiter, Leipzig/Kassel 2015, 177 S., € 22,95, ISBN 978-3894879426

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