Immer wieder polarisiert Nikolaus Harnoncourt das Publikum, denn jegliche Repertoireerweiterung ist bei ihm bekanntlich mit ungewohnten Lesarten der Partitur verknüpft. Egal ob Bach, Mozart, Schubert, Verdi, Bruckner oder gar Offenbach, Harnoncourt will Musik unter neuen Vorzeichen entdecken und „Interpretationsirrtümer“ entwirren, um dem, nach eigener Formulierung „stumpfsinnig-ästhetisierenden Musizieren entgegenzuwirken“.
Monika Mertl: Vom Denken des Herzens. Alice und Nikolaus Harnoncourt – Eine Biographie, Residenz Verlag Salzburg 1999, 54 Mark, 340 Seiten. Immer wieder polarisiert Nikolaus Harnoncourt das Publikum, denn jegliche Repertoireerweiterung ist bei ihm bekanntlich mit ungewohnten Lesarten der Partitur verknüpft. Egal ob Bach, Mozart, Schubert, Verdi, Bruckner oder gar Offenbach, Harnoncourt will Musik unter neuen Vorzeichen entdecken und „Interpretationsirrtümer“ entwirren, um dem, nach eigener Formulierung „stumpfsinnig-ästhetisierenden Musizieren entgegenzuwirken“. Behutsames Entdecken bestimmt auch den Gestus der Biografie von Monika Mertl. Hinter dem Titel „Vom Denken des Herzens“ verbirgt sich bereits Harnoncourts künstlerisches Credo; publikumswirksame Klischees eines eigensinnigen Dirigenten werden hier nicht bemüht, vielmehr interessiert die Autorin der biografische und philosophische Hintergrund, der dem Leser Zugang zu Harnoncourts Arbeitsweise und sich immer wieder wandelndem Musikverständnis schafft.Musik prägte bereits das Elternhaus des in Berlin geborenen und in Graz aufgewachsenen Habsburger Sprösslings Nikolaus de la Fontaine Graf von Harnoncourt und Unverzagt. Die Rundfunkübertragung einer Beethoven-Symphonie unter Furtwängler gibt schließlich den Ausschlag für seine Entscheidung, Musiker zu werden. Schon früh, und vor allem in intensiven Auseinandersetzungen über Politik, Geschichte und Theater mit dem Vater signalisiert Harnoncourt eine Haltung, die bis heute sein Leben und Arbeiten prägt: das kritische Hinterfragen vorhandener Meinungen und Urteile. Als langjähriger Cellist bei den Wiener Symphonikern konnte Harnoncourt persönliche künstlerische Einwände kaum geltend machen, das Verhältnis zwischen Orchesterkollektiv und wechselnden Dirigenten bot für grundsätzliche Kursänderungen im Umgang mit dem alltäglichem Konzertbetrieb keinen Platz. Das langjährige Beobachten verschiedener Dirigenten bildete für Harnoncourt die Basis autodidaktisch erworbener Dirigierkenntnisse. 1953 schließlich gründet er mit Freunden ein eigenes Ensemble, den Concentus musicus Wien mit Originalinstrumenten, zum Teil aus Harnoncourts umfangreicher Privatsammlung begibt man sich auf Entdeckungsreise in bislang kaum erschlossene Klangwelten zwischen Mittelalter und dem 18. Jahrhundert.
Geradezu symbiotisch mutet die private und künstlerische Partnerschaft zu seiner Frau Alice an, selbst Geigerin und bis 1981 Konzertmeisterin des Concentus musicus. Daneben versorgt sie vier Kinder, kümmert sich um organisatorische „Nebensächlichkeiten“ und schirmt ihren Mann vor allen Unannehmlichkeiten ab, die ihm für das kreative Arbeiten im Wege stehen würden. Alles steht im Dienste intensiver Zusammenarbeit, wobei Alice Harnoncourt in keinem Moment von Selbstaufgabe spricht, vielmehr habe sie als Geigerin über 30 Jahre sehr viel verwirklichen können, – oft verstand sie sich als Medium ihres Mannes und seiner künstlerischen Botschaften.
Momente der Erstarrung abzuwenden, das bestimmt Harnoncourts vielseitige Arbeit als Konzert- und Operndirigent – ausgedehnte Probenphasen, die kritische Auseinandersetzung mit dem Notentext und die immer mitschwingende Frage „warum gestalte ich wie“ sind dabei unverzichtbare Voraussetzung. Ein Konzept, das Harnoncourts künstlerische Kompromisslosigkeit im heutigen Kulturbetrieb immer wieder fordert.
Das Doppelporträt Alice und Nikolaus Harnoncourt bietet zuweilen überraschende Einblicke in ein unkonventionelles Künstlerdasein, unter Verzicht auf chronologische Details lässt die Autorin wichtige biogra-fisch-künstlerische Stationen Revue passieren, ergänzt durch umfangreiche, dramaturgisch reizvoll eingebaute Originalzitate. Sie schaffen nicht nur Lebendigkeit sondern revidieren so manches Vorurteil, zumal die Bildhaftigkeit Harnoncourt’scher Sprache besticht, seine künstlerischen Ideen überzeugen.