Stefan Frey: „Unter Tränen lachen“ Emmerich Kálmán. Eine Operettenbiografie, Henschel Verlag 2003, 368 S., Abb., mit Begleit-CD
Als 1999 in der ambitionierten – inzwischen eingestellten – Decca-Reihe „Entartete Musik“ zum ersten Mal eine Gesamtaufnahme von „Die Herzogin von Chicago“ erschien, konnte man einen der Großen der „Silbernen Operette“ wiederentdecken, dessen Klassiker wie „Die Csárdásfürstin“ oder „Gräfin Mariza“ man in- und auswendig zu kennen glaubte: Emmerich Kálmán. Wer zu dieser Zeit allerdings nach Kálmán-Biografien Ausschau hielt, wurde enttäuscht. Die letzte große deutschsprachige Lebensbeschreibung, die einer seiner Librettisten, Rudolf Österreicher, verfasst hatte, war vor fast einem halben Jahrhundert erschienen, 1954, wenige Monate nach Kálmáns Tod. Danach rückte seine Witwe Vera ins Rampenlicht – und Emmerich Kálmáns Leben verschwand immer mehr in der Vergessenheit. Um so erfreulicher ist nun das Erscheinen dieser vorzüglichen Kálmán-Biografie des Léhar-Kenners Stefan Frey, der den „Csárdás-König“ als „schwermütigen Meister der leichten Muse“ schildert.
Emmerich Kálmán war ein Kind der „k. und k.“-Zeit. Die Zerrissenheit dieser Epoche spiegele sich nicht nur in der Musik, sondern auch im Lebensweg des jüdischen Komponisten, der 1882 in Ungarn geboren wurde, meint Frey: „Die Erfahrung von Heimatlosigkeit und Verlust zieht sich durch sein ganzes Leben. Schon als Kind musste der spätere Emigrant in die Fremde. Und wie schon sein Vater verlor auch er sein Vermögen. Dass er mit solchen Erlebnissen ausgerechnet bei der Operette landete, ist nur scheinbar paradox.“ Denn in seinem Schaffen wurden diese Widersprüche auf merkwürdige Weise produktiv. Für Frey fängt zum Beispiel die „Csárdásfürstin“ wie keine zweite Operette die Atmosphäre des Ersten Weltkrieges ein: „Trotz aller Ausgelassenheit ist es die Weltuntergangsoperette par excellence, trotz aller Popularität Katastrophenmusik: Lachen unter Tränen!“
„Unter Tränen lachen“ nennt dann Frey auch sein vorliegendes Werk, das Kálmáns Sohn Charles, „ein wandelndes Lexikon der Epoche“, mit vielen bisher vollkommen unbekannten Details und Zusammenhängen ergänzte. Frey hatte Zugang zu den bisher kaum aufgearbeiteten Hinterlassenschaften seiner Mitarbeiter wie Hubert Marischka oder Alfred Gründwald. Und so entstand eine kenntnisreiche Biografie eines großen Unterhaltungskomponisten und ein facettenreiches Panorama jener Zeit. Ein Buch, das in einem Atemzug zu nennen ist mit den anderen großen Lebensbeschreibungen von Königen der leichten Muse, die in den letzten Jahren erschienen sind: Robert Stolz, Ralph Benatzky, Erich Wolfgang Korngold oder Werner Richard Heymann. Ein anderer Tonfall ist in all diesen neuen Büchern vernehmbar. Nicht Glorifizierung betreiben die Autoren dieser „modernen“ Biografien, sondern eine präzise Verortung der Komponisten in die „popular culture“ von Wien, Berlin, Paris, New York oder Hollywood. Fast alle schrieben Musik, die von den Nazis später als „entartet“ gebrandmarkt wurde. Und so landeten all jene Musiker spätestens nach dem „Anschluss“ 1938 zumeist über die Zwischenstation Frankreich im amerikanischen Exil. Mehr oder weniger erfolgreich waren sie dort in Hollywood oder am Broadway tätig. Auch Emmerich Kálmán machte da keine Ausnahme.
In den zehner und zwanziger Jahren entstanden Kálmáns große Operetten, die allesamt in Wien uraufgeführt wurden. Werke, die zu dem großen Operettenkorpus gehören, den László Mátrai einmal als den „frühesten und längsten Ausdruck von Österreich-Ungarn“ bezeichnet hat. In einem großen Essay hat der Kulturhistoriker Moritz Csáky diese Werke Mitte der neunziger Jahre neu „gelesen“ und darin Bausteine für eine Mentalitätengeschichte Zentraleuropas gefunden. Die musikalischen Aspekte hatte ja bereits zuvor der „Operetten-Papst“ Volker Klotz ausführlich in seinem „Handbuch einer unerhörten Kunst“ gewürdigt. Zusammenfassend heißt es da, dass Kálmán seine unverwechselbaren musikalischen Einfälle „mit szenischer Imagination sowie mit satztechnischem und orchestralem Kunstsinn“ verarbeitete, „zumeist ausgehend von ungarischer und zigeunerischer Folklore, deren Impulse er eigenständig abwandelte.“ Csáky und Klotz hatten die Spuren gelegt für eine gründlichere Aufarbeitung der Kálmán-Operetten, die in der Nachkriegszeit verkommen waren zum oft lustlos aufgewärmten Repertoire. Stefan Freys verdienstvolle Biografie könnte dazu beitragen, dass sich dieser Zustand ändert. Das Anliegen des Autors scheint es jedenfalls zweifellos zu sein, den „Puccini der Operette“, wie er ihn nennt, für die Zukunft zu „retten“.
In Robert Stolz’ sehr lesenswerter Autobiografie hatte Kálmán in New York noch einmal einen großen Auftritt. „An fast jedem schönen Tag ging ich im Westen des Central Parks gegenüber unserem Haus an einer einsamen Gestalt vorbei. Sie saß auf einer Bank und brütete düster über dem ‚Wallstreet Journal‘, zu ihren Füßen eine Tüte mit Kartoffeln, Kohl, Wurst oder ähnlichen ‚Lebensmitteln’.“ Dieses Bild scheint Frey den Drive versetzt zu haben für seine furiose Hommage an den Meister. Für Frey steht es als „Symbol der Operette im Exil, aus dem sie eigentlich nie mehr zurückgekehrt ist. Denn trotz des ungeheuren Erfolgs in Europa und vor allem in Deutschland war die einst lebendige Operettenkultur nach dem Zweiten Weltkrieg unwiederbringlich dahin.“ Im „falschen Schein der fünfziger Jahre“ sei die Operette zwar gespenstisch auferstanden, meint Frey, aber dabei hätte es sich um ein Missverständnis gehandelt. Die Magie der „guten alten jüdischen Operette“, wie sie Kálmáns Hauslibrettist Alfred Grünwald immer genannt hat, war für immer verloren. Da hatten der „Führer“ und seine kunstsinnigen Freunde ganze Arbeit geleistet.