Die Erwartungen an solch eine Veröffentlichung sind groß: Was hat die Musik des 19. Jahrhunderts im Allgemeinen mit dem Frauenbild der Zeit zu tun und was im Besonderen die Musik des ausgewiesenen „Frauenfeindes“ Johannes Brahms? Das ist die generelle (Gender-)Forschungsfrage der zweiten Generation nach der verdienstvollen feministischen Biographieforschung durch die erste Generation. Die Musikwissenschaftlerin Annette Kreutziger-Herr: „Wenn im methodologischen Werkzeugkoffer von Historikerinnen und Historikern das Analyseinstrument ,Gender‘ fehlt, ist der Koffer im 21. Jahrhundert nicht vollständig gepackt.“
Mit diesem Anspruch liegt jetzt eine bei Böhlau veröffentlichte Dissertation von Marion Gerards zu Brahms’ Geschlechter-Auffasung vor. Sorgfältig und anspruchsvoll bereitet Gerards den philosophischen und gesellschaftlichen Hintergrund auf, in dem die Frau Natur, Instinkt, Mutter – alles – ist, nur nicht Vernunft. Annäherungen an Brahms beschreiben die biographischen Umstände, die dazu führten, dass man Brahms ein dauerhaft gestörtes Verhältnis zu Frauen nachsagt.
Weitere Zugangswege sind das „Schatzkästlein des jungen Kreisler“, in dem Brahms seine Ansichten über Frauen gesammelt hat und seine Bibliothek: Was hat er gelesen und vor allem, was hat er in der Lektüre unterstrichen? Darin haben Luthers Tischreden „Ein Weib ist ein freundlicher/holdseliger und kurzweiliger Gesell des Lebens ...“ und „Es ist kein Rock noch Kleid, das einer Frawen oder Jungfrawen ubeler ansteht als wenn sie klug wil sein“ und der Koran „Männer sollen vor Frauen bevorzugt werden, weil auch Gott die einen vor den anderen mit Vorzügen begabt und auch weil jene diese unterhalten“ ebenso Platz wie deutsche Sprichworte: „Kein Kleid steht einer Frau besser als Schweigen.“
Dies und die musikanalytische Untersuchung von 195 Liedern ergab, dass Brahms’ Frauenbild sich nicht vom gesellschaftlich verankerten Geschlechterdiskurs der Zeit unterscheidet: Das Leid der Frauen ist Liebesleid, der einzige Lebenssinn ist die Liebe zu einem Mann. Darüber hinaus sind sie vor allem mütterlich. Die Untersuchung der Musik bestätigt diese Vorstellungen. Auch in der Untersuchung der Kantate „Rinaldo“ weist Gerards in der Musik sensibel analytisch nach, dass Rinaldo seine gesellschaftlich geforderte Männlichkeit zurückgewinnt, indem er seine „emotionalen Sehnsüchte und Projektionen beziehungsweise seine Imaginationen des Weiblichen abwehren und überwinden muss“.
Spannend wird es bei der sogenannten absoluten Instrumentalmusik. Brahms hat hier öfters auf einen poetischen Gehalt verwiesen, dies besonders durch Gedichtzitate. Eine genderkonnotierte Bedeutung weist die Autorin schlüssig für das gesanglich-lyrische Adagio des Klavierkonzertes in d-Moll nach, das ein Porträt von Clara Schumann sein soll. Wenn die Autorin hier auch gut deutlich machen kann, dass „reine Instrumentalmusik an Geschlechterkonzepten mitschreibt“, so stellt sie selbstverständlich nicht die Frage nach einer „männlichen“ Ästhetik, wie einst nach einer „weiblichen“ gefragt wurde: Diese Fragestellung hat sich nach Gerards als Glatteis erwiesen. Denn „nicht bestimmte musikalische Strukturen sind männlich oder weiblich, sondern das Verstehen von und das Sprechen über Musik ist in gesellschaftlichen Kontext und Diskurse wie den Geschlechterdiskurs eingebunden“.
So bezeichnete beispielsweise Joseph Joachim Brahms’ Klavierquintett als „voll männlicher Kraft“, womit er „punktierte, aufstrebende Melodik, Dreiklangsbrechungen, Dynamik im Fortebereich, Dynamisierungen, Wechsel des thematischen Materials, Stauungen und klangliche Kontraste“ meinte. Ähnlich urteilte der Arzt und Freund Theodor Billroth, wohingegen Frauen wie Clara Schumann und Elisabeth von Herzogenberg für Brahms’ Musik eher Naturstimmungen und Narrativität bemühen: Sowohl in der fachlichen als auch in der Laienrezeption wurden die Vorstellungen der Zeit eingesetzt und zwar bis heute. Ein durchgehend spannend geschriebenes Buch.