Erzählte Erinnerung. Gespräche mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen über das Nürnberger Stadttheater zwischen 1920 und 1950 (Thurnauer Schriften zum Musiktheater, Bd. 41), hrsg. von Silvia Bier, Königshausen & Neumann, Würzburg 2021, 262 S., Abb., € 28,00, ISBN 978-3-8260-6746-4 +++ Hitler. Macht. Oper. Propaganda und Musiktheater in Nürnberg 1920–1950 (Thurnauer Schriften zum Musiktheater, Bd. 40), hrsg. von Silvia Bier/Anno Mungen/Tobias Reichard/Daniel Reupke, Königshausen & Neumann, Würzburg 2020, 594 S., Abb., € 68,00, ISBN 978-3-8260-6701-3 +++ Hitler. Macht. Oper. Propaganda und Musiktheater in Nürnberg, Ausstellungskatalog, hrsg. von Tobias Reichard/Anno Mungen/ Alexander Schmidt, Imhof Verlag, Petershausen 2018, 192 S., € 19,95, ISBN 978-3-7319-0735-0
Der „Fall“ ist ein mehrfacher: Früher als andere Regionen wurde Franken von der NS-Bewegung durchdrungen. In Konkurrenz zu München, der „Hauptstadt der Bewegung“, suchte sich Nürnberg als „Stadt der Reichsparteitage“ zu positionieren und als fränkische NS-Metropole zu profilieren – bis in die Kultur hinein. Trotz schwerer Kriegsschäden und der Kriegsverbrecherprozesse gab es dann in Nürnberg nach 1945 eine deutliche personelle Kontinuität in Ämtern aus der NS-Zeit heraus – auch in der Kultur. All das analysierte ein Forschungsprojekt der Universität Bayreuth, speziell das in Thurnau ansässige Forschungsinstitut für Musiktheater, am Fall des Nürnberger Stadttheaters: ein öffentlichkeitswirksamer Mikrokosmos, kompakt, überschaubar, mit mehrfach guter Quellenlage und noch ansprechbaren Zeitzeugen. Prompt wuchs sich das Projekt aus.
Mitherausgeberin Silvia Bier reflektiert im Band „Erzählte Erinnerung“ vorweg sehr differenziert, wie sehr sich Erinnern und Vergessen, reale und imaginierte Details, Beschönigung und Weglassen speziell in der wissenschaftlichen Praxis von „oral history“, im Gespräch mit Zeitzeugen fortgeschritteneren Alters unauflösbar mischen können: Der seit 1930 bis in sein Seniorenheim tätige Theaterkritiker Theo Kretzschmar erzählt vom penetranten Einfluss der Nürnberger Nazis im Kulturleben – etwa von Hakenkreuz-Fahnen in der Nürnberger Meistersinger-Inszenierung von 1935. Doch die lassen sich bis hin zu Bühnenfotos nirgendwo belegen, denn Benno von Arndts Festwiese imitierte auf der Bühne nur mit neutralen Stoffbahnen eine Fahnenstraße des Reichsparteitags mit NS-Symbolen – diese widersprächen auch der von Goebbels ausgegebenen Leitlinie: „Nicht so viel aufdringliche Politik. Mehr scheinbar absichtslos arbeiten. Das wirkt viel schlagender.“
Dafür holen die ausführlichen, durch Anmerkungen sowie Kurzbiografien ergänzten „Erzählungen“ der zwei männlichen und drei weiblichen Theatermenschen die zentralen, aber eher abstrakten Leitlinien der NS-Kulturmachthaber lebensnah in die Theater-Realität der Jahre 1920 bis 1950: Bewunderung für die Auftritte damaliger erster Sänger wie Jaro Prohaska als Hans Sachs oder die blonde Eva wie Elsa von Trude Eipperle als ideale deutsche Künstler – Kündigungen und Bevorzugungen, stillschweigende Anpassung und ganz verhaltene Distanz etwa.
Der Ausstellungskatalog liefert dazu Belege aus den Archiven von Stadt, Theater und Privatpersonen: die Umgestaltung der Front des Opernhauses mit Hakenkreuz; die Versachlichung des Zuschauerraums mit Einbau einer „Führerloge“, den naturalistischen Historismus der „Meistersinger“-Kostüme und -Bühnenbilder. Besonders spannend sind die Nürnberger Anfänge Wieland Wagners: seine naturalistischen Kostüme und Bühnenbilder zum „Fliegenden Holländer“ 1942, seine Suche nach einfacheren, klaren Formen für seinen „Ring“-Zyklus 1944“ bis hin zum schlichten Brünnhilde-Kostüm von Helena Braun – eine Vorahnung der späteren Bayreuther „Entrümpelung“.
In „Hitler. Macht. Oper“, dem gut und differenziert gegliederten Hauptband, werden dann von wechselnden Fachautor*innen in 19 Kapiteln Einzelaspekte verfolgt. Alt-Wagner-Kenner Hans Vaget sieht Hitler-Deutschland erneut als „Meistersinger-Land“ mit vielfachen Anknüpfungspunkten. Das wird durch das junge Forschungsfeld „Raum und Propaganda“ ergänzt – über das Reiseführer-Klischee „Nürnberg – des Reiches Schatzkästlein“ hinaus. Auf dem Stand der Diskussion lesen sich die Studien zu NS-eingefärbten Frauenbildern auf der Bühne wie in der Nürnberger Gesellschaft und bieten Stoff für tiefer gehende Gender-Debatten. Über Wiederbelebungsversuche von Lortzings „Hans Sachs“ und das auch in Nürnberg im engeren Sinne fehlende „NS-Musiktheater“, das auch von zeitgenössischen Spielplan-Neuheiten wie Robert Hegers „Der Bettler Namenlos“ nicht erfüllt werden konnte.
Darüber hinaus verdient Tobias Reichards Beitrag „Von der Gralsburg zum Lichtdom“ Beachtung: er stellt das Bemühen um die äußere wie auch musikalische Neugestaltung der „Feierstunde für die Politischen Leiter“ dar: die Komposition einer eigenen Kantate durch Friedrich Jung, die minutengenaue Inszenierung des Aufmarsches von über 120.000 Mann, den hochstilisierten Auftritt des „Führers“, die ausgeklügelte Tontechnik, gipfelnd im innovativen Lichtdom – ohne die bierzelt-rabaukigen Banalitäten zu verschweigen; eine lohnende Lektürebegleitung zu den Eindrücken aus Leni Riefenstahls „Reichsparteitag“-Film. Hier, auch in analytischen Blicken auf Operette, Ballett, Ausdruckstanz und im durchgängigen Missbrauch von Werken Richard Wagners, wird deutlich, wie sehr das unter „Oper“ subsummierte musikalische Theater aus „Macht“-politischen Motiven von „Hitler“ und seiner oft unmusikalischen Gefolgschaft genutzt wurde, um Zugang und Zugehörigkeit zum Bildungsbürgertum, speziell auch zu zuvor oft exklusiven Hochkultur-Kreisen zu erlangen.