Ganz am Ende, nach fast tausend Seiten, im Schlusssatz, fällt der Hinweis auf die „außerordentliche Geschlossenheit“, durch die sich Bachs Vokalwerk auszeichnet. Erst wenige Sätze zuvor hat der Autor ein zentrales Thema angesprochen, das im Schaffen Johann Sebastian Bachs von zentraler Bedeutung ist: das Parodieverfahren. Eigentlich, so könnte ein vorschneller Einwurf lauten, hätte man sich zu dieser wichtigen Thematik schon früher mehr gewünscht – und nicht erst in der Nachbemerkung. Doch so einfach kann, darf man es sich nicht machen. Denn was Friedhelm Krummacher in den vorhergehenden Analysen alles offengelegt, auseinandergenommen und wieder zusammengefügt, erläutert und zueinander in Beziehung gesetzt hat, ist faszinierend.
Wer sich auf eine Reise durch Bachs Kantaten begibt – ob als Musiker oder als Wissenschaftler – braucht per se Ausdauer, Mut und ungezählte Kenntnisse. Autoren blicken dabei gerne und dankbar zurück auf Alfred Dürrs bahnbrechende Beobachtungen aus den 1950er-Jahren, die eine Reihe von teils gewichtigen weiteren Deutungen nach sich gezogen haben.
Krummacher gliedert seine Studie in acht, der Chronologie folgende Teile, ausgehend von den Frühwerken von 1707/08 bis zur Johannes-Passion im ersten Teil, bevor der zweite Band mit dem Kantatenjahrgang 1724/25 einsetzt und mit der Matthäus-Passion endet. Die h-Moll-Messe und die Lutherischen Messen bleiben hier, durchaus mit gutem Grund, außen vor. Auch die reduzierte Berücksichtigung der Rezitative rechtfertigt Krummacher bereits in der Einleitung.
Gründlichkeit dominiert bei den anfänglichen Erörterungen zur Datierung und Quellen-Situation der jeweiligen Kantaten. Krummacher weiß natürlich, dass er vor einem Dschungel an Mutmaßen und nach wie vor offenen Fragen steht. Also konzentriert er sich auf die nachgewiesenen, nachweisbaren Fakten und ordnet diese anhand von vorliegenden Autographen (oder autographen Titeln), Kopien, späteren Vermerken, belegten Aufführungen etcetera so gut es geht zu. Bereits diese Kapitel zeigen, dass das zweibändige Kompendium auf ständige thematische Verzahnung hin angelegt ist. Wer also gesonderte, abgetrennte Erläuterungen zu jeder einzelnen Kantate sucht, wird hier nicht bedient. Krummacher möchte vielmehr die Strukturen in Bachs Kantaten untersuchen und offenlegen, nicht systematisch von Werk zu Werk schreiten. Wer Analysen zu einer bestimmten einzelnen Kantate sucht, wird um einen ausgiebigen Gebrauch des Registers nicht herumkommen.
Übergreifend auf bestimmte Formen werden von Krummacher in den Fokus gerückt: Instrumentale Einleitungen, Chorische Satzkomplexe, Fuge, Choralbearbeitung und Choralkombination, Gruppen und Arten der Arie, Solistische Spruchvertonungen etcetera. Schnell wird klar, dass der Leser tief in Bachs Kosmos hineingeführt wird. Das ist kein Buch für Liebhaber, die zur Oberflächlichkeit neigen, es ist erst recht kein Bach-Führer für die Westentasche, und auch die Ankündigung des Verlages, dass dieses Buch in „klarer und verständlicher Sprache“ geschrieben sei, entpuppt sich als euphemistisch. Ein beinahe willkürlich herausgepicktes Beispiel: Über die Sopran-Arie „Hört, ihr Völker“ (in BWV 76) heißt es: „Das Ritornell gliedert sich in zwei viertaktige Gruppen, deren Kopfmotiv eine punktierte Wendung mit einer dreitönigen Formel verkettet. Nach zwei Takten, in denen sich die Violine und der Continuo komplementär ergänzen, wird das Incipit zu einer skalaren Kette verlängert, die beide Stimmen zusammenfasst und am Ende zur Tonika lenkt.“ Das ist, für sich genommen, komplex genug; gewinnt aber dadurch an Bedeutung, indem Krummacher zuvor auf BWV 22 zu sprechen kommt und anschließend auf die Arie „Die Welt mit allen Königreichen“ (in BWV 59) sowie Arien in BWV 75 und BWV 24. Krummacher möchte zeigen, dass für Bach die Besetzung (es handelt sich bei den genannten Arien ausschließlich um Sätze mit einem Soloinstrument) eine „maßgebliche Prämisse für die Satzstruktur“ bildet, „während die Wahl der Form- und Tanztypen davon unabhängig ist“. Von hier aus schreitet Krummacher weiter zu den Arien mit zwei obligaten Instrumentalstimmen und zu Sätzen mit größerem Instrumentalensemble. Am Ende wird deutlich, dass kleinere Besetzungen Bach grundsätzlich „eine kontrapunktisch differenzierte Stimmführung“ ermöglichen, dass er diese jedoch am ehesten in den Sätzen mit zwei Instrumenten präferiert.
Wer sich durch die sprachlich wie inhaltlich komplexen Detailanalysen durchgearbeitet hat, wird immer wieder mit einordnenden Sätzen belohnt, die die Mikroskop-Betrachtungen in einen allgemeineren Kontext stellen. Etwa: „Wo Bach Texte vor sich hatte, die keine charakteristischen Affekte boten, ersann er besonders kunstvolle Konstruktionen, die sich am metrischen und syntaktischen Gefüge der Vorlagen orientierten.“ Oder: „Dagegen fällt auf, dass Bach vielfach Texte wählte, deren Sprachform eine solistische Vertonung nahelegte.“ Oder, abermals auf die Textauswahl und die Verklammerung von rezitativischen und ariosen Abschnitten bezogen: „Bach scheint daher auf Vorlagen geachtet zu haben, die solche Verbindungen ermöglichten. Offenbar ging es ihm nicht um die Unterscheidung zwischen Sätzen und Satzarten, sondern um Kreuzungen, die den Abstand zwischen den Rezitativen und den Arien verringerten.“
Auch diese Ausschnitt zeigen, dass Krummacher sich an ein fachkundiges Publikum richtet, das ein gewisses Maß an Ausdauer mitbringen sollte. Je tiefer man in die vielen Detailbeobachtungen eindringt, desto faszinierender ist der Kosmos, den der Leser hier neu kennenlernen kann. Eines schimmert immer wieder durch: der große Respekt, den der Autor Bachs Musik entgegenbringt. Dieser allein rechtfertigt schon Genauigkeit und Kondition.
- Friedhelm Krummacher: Johann Sebastian Bach: Die Kantaten und Passionen, Band 1: Vom Frühwerk zur Johannes-Passion (1708–1724), Band 2: Vom zweiten Jahrgang zur Matthäus-Passion (1724–1729), Bärenreiter/Metzler, Kassel/Stuttgart 2018, 2 Bde., € 198,00, 367 + 591 S., ISBN 978-3-7618-2409-2