Als „eine verlorene Paketsendung“, die um Jahrzehnte verspätet ausgeliefert wird, bezeichnet Andreas Wehrmeyer als Herausgeber den vorliegenden Band 19 der „neue wege/nové cesty“ betitelten Schriftenreihe des Sudetendeutschen Musikinstituts. Denn die hier erstmals veröffentlichte „Geschichte der böhmischen Musik“ ist nicht aktuell entstanden, sondern bereits selbst als historisches Dokument zu werten. Die Edition beruht nämlich auf einem maschinenschriftlichen Skript, das sich im Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung in Marburg erhalten hat, im Wesentlichen bis auf spätere Retuschen 1959 abgeschlossen wurde und aus nicht mehr nachvollziehbaren Gründen damals nicht zum Druck gelangte.
Es mag sein, dass die Darstellung der böhmischen Musikgeschichte in diesem Manuskript in Einzelheiten durch neuere Forschungsergebnisse zu berichtigen oder zu ergänzen wäre, doch schien sie Andreas Wehrmeyer, dem Leiter des Sudetendeutschen Musikinstituts, ihrer Qualität halber der verspäteten Veröffentlichung wert. Denn Camillo Schoenbaum, ihr Autor, war ein profunder Kenner der Materie, auch wenn er keine akademische Laufbahn als Musikwissenschaftler einschlug, sondern als eifriger Privatforscher tätig blieb.
Der 1925 in Hohenems geborene Schoenbaum studierte von 1945 bis 1949 an der Universität Prag und danach in Wien bei Erich Schenk Musikwissenschaft. In den 1950er Jahren veröffentlichte er mehrere Artikel zur älteren böhmischen Musik, auf die sich zusammen mit weiteren Forschungsarbeiten sein Projekt eines zweibändigen „Handbuches der Musikgeschichte Böhmens“ stützte, dessen erster Band hier nun endlich ans Licht der Öffentlichkeit gelangt. Ein zweiter Teil, der biographisches und bibliographisches Material enthielt, ist nach derzeitigem Kenntnisstand verschollen. Zur Leistung des Herausgebers gehört es, dass er diesen Verlust ausgeglichen hat, indem er die Literatur- und Quellenbasis überprüfte und Nachweise ergänzte.
Schoenbaums hinterlassenes Typoskript ist nicht der erste Versuch, eine deutschsprachige Musikgeschichte Böhmens zu verfassen. Einen entsprechenden Anlauf unternahm bereits Anfang des 20. Jahrhunderts der Musikwissenschaftler und Komponist Richard Batka, von dessen ambitioniert geplanter „Geschichte der Musik in Böhmen“ 1906 nur ein erster Band realisiert und publiziert wurde. Eine weitere Behandlung des Themas lieferte nach dem Zweiten Weltkrieg der Organist und Historiker Rudolf Quoika, dessen 1956 erschienenes Buch „Die Musik der Deutschen in Böhmen und Mähren“ freilich, wie der Titel schon verrät, in einer ethnisch verengten Sicht befangen bleibt. Schoenbaums böhmische Musikgeschichte hat dagegen den Vorzug, keine künstlichen Grenzziehungen zu schaffen, sondern jenseits „nationaler Vereinseitungen“ und Wertungen die Interaktion zwischen deutsch- und tschechischsprachigen Kulturträgern ins Auge zu fassen.
Inhaltlich reicht Schoenbaums Darstellung, wie es im Untertitel heißt, „von den Anfängen bis in die Zeit der Romantik“. Mehr offene Fragen als gesichertes Wissen präsentiert verständlicherweise das kurze erste Kapitel, das mit „Einbürgerung in die abendländische Kultur“ überschrieben ist. Ausführlicher fällt schon die Darstellung der vor allem geistlichen Musik des 14. Jahrhunderts aus, und besonders breiten Raum nimmt dann „Die Musik der böhmischen Reformation“ ein.
Im Wesentlichen der üblichen musikgeschichtlichen Epochengliederung folgt Schoenbaum mit Kapiteln über die Renaissancezeit, das 17. Jahrhundert und die Musik des Spätbarock. Vermehrt treten nun statt Institutionen und Gattungen individuelle Musiker- und Komponistenprofile in den Vordergrund, zumal in den beiden Teilen „Wegbereiter der Klassik“ und „Böhmische Musik der Klassik“.
Die „Musikeremigration“ aus Böhmen in kulturelle Zentren wie Mannheim und Wien oder auch über die Grenzen des „Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation“ hinaus bis nach Paris oder London wird in diesem Zeitraum sowie im kurzen Schlusskapitel „Romantische Musik“ zu einem wesentlichen Thema. Dass Schoenbaum mit der Generation der vor und gegen 1800 geborenen Komponisten wie Tomaschek, Dussek oder Worzischek die vorliegende Darstellung beschließt, hat wohl seine Gründe: Man mag diese Zäsur als ein Zurückweichen vor der Herausforderung verstehen, den im 19. Jahrhundert sich allmählich zuspitzenden Gegensatz zwischen der tschechisch- und der deutschsprachigen Bevölkerung in Böhmen in seine Forschungen einbeziehen zu müssen.
Schoenbaums Darstellung ist kein Text, der sich leicht und schnell liest, und wendet sich eher an den Fachmann als den interessierten Laien. Ohne Weitschweifigkeiten präsentiert der Autor sein Material knapp und höchst konzentriert, stets sorgsam abwägend, was an musikgeschichtlich in der Literatur Überliefertem verlässlich ist, was dagegen unwahrscheinlich oder widerlegbar. Wer Schoenbaums Ausführungen mit Gewinn lesen will, bringe für die älteren Epochen überdies gute Vorkenntnisse der politischen und der Konfessions-Geschichte in Böhmen mit und wisse, was Letztere betrifft, mit Begriffen wie „Utraquisten“, „Calixtiner“ und „Taboriten“ etwas anzufangen.
- Camillo Schoenbaum: Geschichte der böhmischen Musik. Von den Anfängen bis in die Zeit der Romantik (neue wege – nové cesty. Schriftenreihe des Sudetendeutschen Musikinstituts, Bd. 19), ConBrio Verlagsgesellschaft, Regensburg 2022, 375 S., Notenbsp., € 39,90, ISBN 978-3-949425-02-8