Gewichtig – und anspruchsvoll weit gespannt. Der Band bietet eine Quintessenz der gleichnamigen Tagung von 2019 an der Universität Oldenburg. Auf 432 Seiten sind 21 Beiträge versammelt; von griechischen Quellenbezügen quer durch die Jahrhunderte bis zu aktuellen Assemblage-Experimenten werden gleichsam „Genregrenzenlos“ Beispiele untersucht, in denen Musikdramatik, ihre Protagonisten und Werke sich auf der Bühne selbst bespiegeln.
Selbst der belesene Opernfreund muss mehrfach hinnehmen, dass die Autoren ihr Verständnis von Wissenschaftlichkeit in oft schwer lesbarer Sprache, dann auch verstiegenen Gedankengängen kundtun. Andererseits stehen auch für den erfahrenen Opernfreund gleich von Anfang an reizvolle Einsichten: wie nämlich schon in der Antike unterschiedlich tragische und komische Darstellungen von Göttern und Heroen auftauchen, also divergierende Aspekte und Handlungen ein und derselben auftretenden Figur. Das führt dann in der mitteleuropäischen Operngeschichte zu einem Höhepunkt: Jetzt werden auch das Verhalten der Autoren, Sänger und dann vor allem der veranstaltenden Impresarii auf der Bühne dargestellt; neben deren Eitelkeiten sind sogar das Geld-Verdienen, ja Scheitern oder Reichwerden durch Opernproduktionen thematisiert. Von 1711 spannt sich ein Bogen der meist satirischen Selbstbespiegelung, der 1720 in Marcellos „Il teatro alla moda“ einen ersten Höhepunkt findet. Venedig und sein berühmter Karneval fordern Jahr für Jahr neben aller pathetischen Größe gesungener Tragik auch unterhaltendes Musiktheater: das gelingt leicht in Form von Opernparodien.
Dann Paris: In „Le trois âges de l’opéra“ von 1778 betreten nun Lully, Rameau und Gluck als Opernfiguren die Bühne. Das abenteuerliche Leben Domenico Cimarosas bietet 1808 in der gleichnamigen Opéra comique von Bouilly und Isouard Stoff für einen großen Erfolg, den Berlin und Wien nachspielen. Mozart wird schon im 19. Jahrhundert mehrfach zur Bühnenfigur – bis ins Musical unserer Tage.
In der teils chronologischen Abfolge des Buches ist erstaunlich, dass Lortzings singender Hans Sachs von 1840 und das ganze Vorspiel zu „Ariadne auf Naxos“ des Duos Hofmannsthal-Strauss keine Erwähnung finden. Zu Recht wird der Amsterdamer (DVD von 2016) und Londoner (Mediathek von 2019) „Pique Dame“-Produktion von Stefan Herheim ein hochdifferenzierter Beitrag gewidmet, in der ein hinzuerfundener Tschaikowsky als Bühnenfigur mit seiner Homosexualität eine durchgängige Rolle spielt.
Es fehlt: Herbert Wernickes Münchner „Holländer“-Inszenierung – sie zeigte schon 1981 den Komponisten Wagner und seine Titelfigur im Gleichklang als 1848er-Revolutionär, was auch eine Analyse lohnte. Breit wird Barrie Koskys Bayreuther „Meistersinger“-Inszenierung von 2017 analysiert, die ja den ganzen Kreis um Wagner, Liszt und Dirigent Levi bis hin zu Cosima in historisierenden Räumen auf die Bühne stellte. Mauricio Kagels Schubert-Lied-Inszenierung „Aus Deutschland“ und eine dramatische Clara-Schumann-Konzertadaption sind als Besonderheiten vorgestellt.
Erfreulich über den E-Musik-Tellerrand ist auch der Blick auf die Bühnenfigur „Irmgard Knef“ samt ihren Chanson-Imitaten von „Schwester Hildegard“. Der Schlussteil des leider kein Register bietenden Bandes weitet dann die Dramatisierung aus auf „Assemblage“ und „multimodale Performance“. Das Gesamtkunstwerk bezieht also immer auch sich selbst als „action“ auf der Bühne ein und beweist damit seine dramaturgische Offenheit und vorläufig ungebrochene theatralische Lebendigkeit.
- Musikgeschichte auf der Bühne. Performing Music History, hrsg. von Anna Langenbruch/Daniel Samaga/Clémence Schupp-Mauer, transcript Verlag, Bielefeld 2021, 434 S., € 49,00, ISBN 978-3-8376-5746-3