„Spitta und Riemann hatten noch ein Organ für die unermeßliche qualitative Differenz zwischen Bach und Zeitgenossen wie Telemann oder rudimentären Vorformen wie Schütz.“ Das ist schon mal ein Wort. Musikgeschichte quasi als Paläoanthropologie vom Stand- und Zielpunkt des Heute als Krone der Schöpfung und des Geistes. Von da aus entscheidet der Befund, ob und wie ein „Organ“ ausgebildet ist, über die Entwicklungsstufe der komponierenden Hominiden. Telemann? Unterentwickelt. Schütz? Gerade ein Homo erectus.
Dabei steht das Urteil des Frankfurters Adorno über den einst auch Frankfurter Kantor nur am Ende eines über 200-jährigen Telemann-bashing, das schon bald nach dessen Tod einsetzte. Das Koordinatensystem begann sich damals zu verändern: Aus Handwerkskunst sollte Schöpfertum werden, Galanterie wurde vom Geniewesen, die bürgerliche Musikkultur vom beginnenden Musikkult weggefegt, und die Internationale des Feudalismus schickte sich an, allmählich in Völkern und ethnisch homogenen Staaten auf- beziehungsweise unterzugehen. Als dann Philipp Spitta kurz nach der Reichsgründung 1873 seine epochale Biografie J.S. Bachs vorlegte, erschien dieser als „der höchste Vollender einer Kunstrichtung echt nationaler Art“ – und Telemann als „flacheres Talent“, dem man seine Ausflüge in französische, italienische und polnische Stilgefilde übelnahm. Man hatte also einen protestantischen Nationalheiligen der Musik gewonnen sowie ein reichlich homogenisiertes Bach-Bild ganz nebenher. Was man aber verloren hatte, das war das tatsächlich „unermessliche“ Reich der Musik.
Wie ausufernd und vielgestaltig dieses war, das kann man nun anhand der pünktlich zum 250. Todestag innerhalb der Reihe „Große Komponisten und ihre Zeit“ erschienenen Telemann-Biografie von Siegbert Rampe erahnen.
Es ist, nach solchen zu C.P.E. Bach, Händel und Vivaldi, nun Rampes vierte Komponistendarstellung in dieser Reihe; er ist also nicht nur biografiegeschichtlich mit der Epoche bestens vertraut, sondern als Autor und Herausgeber zahlreicher musikhistorischer Werke und Editionen auch wissenschaftlich auf dem Stand der Dinge. Das verdient vor allem deshalb besondere Erwähnung, weil Rampe als Cembalist, Ensembleleiter und Professor für historische Tasteninstrumente darüber hinaus ein glänzender Praktiker gewesen ist: Hier also war auch ein Musiker höchster Güte am Werk.
Und die Lust des Musikers aufs Spielen und die Werke schimmert überall in dieser Biografie durch, die als erste nach Telemanns Tod sein langes Leben und Wirken wissenschaftlich fundiert sowie umfassend erkundet. Im großen Reich der Musik war Telemann nämlich einer der Größten, wenn nicht der Größte, allein schon seinem ausufernden und vielgestaltigen Werk nach. Auszugweise und überschlägig: rund 1.400 erhaltene Kirchenkantaten, 46 Passionen (davon 23 erhalten), 46 Psalmen und Motetten, 26 Bürgerkapitänsmusiken, weit über 200 Weih-, Trauer- und Hochzeitskantaten, je über Hundert Ouvertürensuiten und Instrumentalkonzerte, um vom Rest wie der Kammermusik, darunter die exquisiten „Pariser Quartette“ von 1738, hier zu schweigen. Der Autodidakt, der einer Pastorenfamilie entspross und nicht wie Bach einer Kantorendynas-tie, der Jura studieren sollte und als Liebhaber, heute würde man sagen: Laie, von Kindestagen an vollkommen unakademisch zur Musik kam, legte eine Laufbahn hin wie kaum einer vor oder nach ihm, lieferte als Kapellmeis-ter in Sorau und Eisenach Musiken für Hof und Kirche, für Stadt und Kirche in Frankfurt und dann über 46 Jahre lang als Musikdirektor in Hamburg, lehnte Rufe nach Gotha, Leipzig und an den Zarenhof ab.
Und ganz nebenher hinterließ er auch ein stattliches Opernwerk, mit dem er bereits zu Studienzeiten Leipzig und später die erste Bürgeroper am Hamburger Gänsemarkt versorgte und von dem neun Opern ganz, 16 teilweise und sieben gar nicht erhalten sind.
„Und wie wäre es möglich, mich alles dessen zu erinnern, was ich zum Geigen und Blasen erfunden“, so Telemann selbst 1740. Angesichts dessen Œuvre und wenn man bedenkt, dass Telemann lange Zeit sein eigener Notenstecher, Verleger und Veranstalter war, bekommen gängige Schlagworte wie „Musikleben“ oder „Kreativwirtschaft“ einen ganz anderen Klang – und eine ganz handfeste Erdung. Ja, irdisch hat man sich Telemanns Wirken vorzustellen, den Menschen und der Natur zugewandt, bei aller Gelehrsamkeit und Geschäftigkeit (und Geschäftstüchtigkeit) getragen von einem freundlichen Ethos, die würdevolle Grand Motet der Pariser Chapelle Royale gleichermaßen achtend wie die Dudelsäcke polnischer Bärenführer.
Aber die neueren Zeiten kriegten ihn stilistisch nicht zu fassen: ebenso französisch gemessen, wie italienisch virtuos und deutsch kontrapunktierend, drang er gekonnt leichtfüßig vom Barock bis weit in die Frühklassik vor. Und auch der schöpferische Reichtum, dessen Erhalt und Nachlasssituation unübersichtlich waren und zum Teil noch sind, stand einer adäquaten Rezeption gleich zweifach im Wege. Denn einerseits verdächtigte man da einen Vielschreiber am Werk, andererseits wussten die vielen Telemann-Kritiker gar nicht, in welches Œuvre sie da gestochen hatten, da sie nur Bruchstücke kannten. Eine erste angemessene Gesamtrezeption bildet nun diese Lebensbeschreibung, in der Siegbert Rampe mit der Herkulesarbeit auch das Kunststück gelingt, die Fülle überschaubar zu machen und sie zugleich mit tiefen Einblicken zu verbinden. Über einzelne Werke ist ebenso viel zu erfahren, wie über Telemanns Alltag, seine Ehe- und Geldkrise aufgrund der enormen Schulden seiner Frau, seine Wertschätzung von Kollegen wie Musik aller Art, seine Blumenliebe. Ein vollständiges Werkverzeichnis und, in der Reihe obligatorisch, eine üppige ultur- wie allgemein historische Chronik runden den Band ab.
Nachdem im Zuge des 300. Geburtstags Pioniere der Alten Musik wie Hermann Max, der jüngst verstorbene Ludger Rémy und natürlich Reinhard Goebel es waren, die Telemann entschieden auf Podien und Covers setzten, ist nun zu dessen 250. Todestag mit Siegbert Rampes Buch eine weitere Stufe erreicht in der Ermöglichung von Breitenwirkung. Die späten Oratorien, etliche der Ouvertüren, Kantaten und Konzerte würden das gängige Musikleben nur belohnen, und Telemanns quasi „weltmusikalischer Ansatz“ der technisch gekonnten wie melodisch eleganten Vermischung von Stilen allemal. Vers une Europe galante. Allons.
- Siegbert Rampe: Georg Philipp Telemann und seine Zeit, Laaber Verlag, Laaber 2017, 569 S., Abb., € 44,80, ISBN 978-3-89007-839-7