Dirigent*innen im Fokus. Warum die klassische Musik fundierte Machtkritik braucht, hrsg. vom Frauenkulturbüro NRW e.V./Hannah Schmidt, transcript Verlag, Bielefeld 2023, 204 S., € 35,00, ISBN: 978-3-8376-6999-2
Notwendige Anstiftung
Wer kämpft, weiß, wo der Gegner steht. Das engt den Horizont oft ein – dazu später – aber die „Hauptkampfrichtung“ stimmt: Auch wenn derzeit speziell in arte, 3sat und in den von Politikern fälschlich abqualifizierten Rundfunkanstalten vermehrt und erfreulich viel Dirigentinnen zu hören und/oder diese Gegenstand von klugen Sendungen sind, dominiert noch immer der männliche Frack auf dem Pult vor und über dem Orchester.
Man glaubt gerne Richard Strauss wäre mit dem Spruch „Eine Berockte und 100 Mann zum Unisono bringen – das wär’ a Gaudi“ nur noch Anekdote, doch noch in den 1970er Jahren giftete der männliche Pult-Stars ausbildende und mit einem bis heute faszinierenden „Ring des Nibelungen“ beeindruckende Hans Swarowsky: „Gehen Sie dahin, wo Sie hingehören – in die Küche!“ und der russische Dirigent Vasily Petrenko führte gar noch 2013 gegen Kolleginnen ins Feld: „Die sexuelle Energie von Dirigentinnen kann ein Orchester verstören.“
Prompt sieht die Realität wieder „einseitig“ aus. Es braucht noch „Anstiftung“ zur Änderung und so will Herausgeberin Hannah Schmidt die Publikation auch verstanden wissen. Im Band sind 18 Profis aus allen musikalischen Bereichen und Tätigkeitsfeldern mit je einem Kapitel versammelt. Darunter gibt es, wenn auch nicht nur, starke Feminismus-Argumente: Gerald Mertens verweist auf das enorme Können von Frauen im Musikbusiness, zumal sich das Klassikpublikum nicht dauerhaft von PR oder Glamour blenden lasse, sondern Authentizität erkenne und schätze – vor aller Genderei. Erst in der Mitte des Bandes spricht Dirigentin Susanne Blumenthal etwas Zentrales aus: dass Dirigentin, Kind und Familie eben bislang noch kaum zu vereinen sind, gerade vor dem dreißigsten Lebensjahr, wo Frau Wettbewerbe gewinnen, dann dranbleiben und extrem volatil sein müsste. Erkennbar werde, dass sich „demokratisches Arbeiten“ vermehrt in freien Ensembles findet und autoritäres Maestro-Gehabe nicht nur in Spitzenorchestern, sondern zunehmend auch in mittleren Stadtorchester obsolet ist. Dennoch spielt „Charisma“ eine nicht wegdiskutierbare Rolle – und das lässt sich nur schwer messen und lernen.
Vieles Weitere wird angesprochen: männlich dominierte Berufungsgremien; weibliche Introvertiertheit im musischen Bereich; Markt-und-Business-Kriterien bei Spitzenorchestern bezüglich Aufzeichnungen, Live-Übertragungen und Tourneen; der reale Gender-Pay-Gap; Kritiken, die Äußerlichkeiten bei Dirigentinnen herausstellen; Vernachlässigung von Komponistinnen im Verlagswesen und vieles mehr.
So stimmt bislang, dass sich 2023 an der Spitze von 129 öffentlich finanzierten Orchestern nur vier weibliche GMDs fanden, obwohl Frauen rund ein Viertel aller ausgebildeter Dirigentinnen und Dirigenten und mittlerweile sogar 37 Prozent der aktuell Orchesterdirigat-Studierenden ausmachen – das müsste im Buch nur weiter hinterfragt werden. So wäre etwa ein Interview mit Frankfurts Intendant Bernd Loebe wünschenswert gewesen, der in seinen bald 23 Jahren so viele Frauen beschäftigt hat wie kein anderen Haus: schon in seiner ersten Saison Karen Kamensek, mehrfach dann Julia Jones und vor allem Hype viermal Joana Mallwitz; auf Anfrage bestätigt er, dass er auch eine weibliche Orchesterchefin engagiert hätte, nur habe sich keine beworben. Von ihm wären also gewichtige Einblicke zu erfahren gewesen. So etwas fehlt im Gesamtbild. Die im Buch intendierte „Anstiftung“ muss dennoch ihre not- beziehungsweise „Missstandwendige“ Zielrichtung verfolgen.
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