Friedbert Streller: Sergej Prokofjew und seine Zeit, Laaber-Verlag, Laaber 2003, 365 S., Notenbeispiele und Bildtafeln, € 36,-, ISBN 3-89007-554-1
Das Werk von Komponisten wie Scho-stakowitsch oder Prokofjew pflegt der westlichen Mit- und Nachwelt Rätsel aufzugeben, die in der östlichen aus eigenen Erfahrungen mit wacher- em Verständnis interpretiert werden konnten. Etwa zum Verhältnis des russischen Künstlers zur Obrigkeit, der man Treue schulde bei Wahrung des eigenen Standpunkts und Anspruch: dies entspräche altererbten russischen Bildungstraditionen. Wie diese Rechnung unter einer Diktatur aufgeht, bleibt eine zweite, immer nur im Einzelfall zu beantwortende Frage. Noch will die Welt ja nichts davon wissen, dass „Peter und der Wolf“ ein in der Schulmusik in Ost und West fortbestehendes Denkmal stalinistischer Utopie darstellt, denn in Prokofjews eigenem handschriftlichen Märchenentwurf lautet der vollständige Titel „Wie Pionier Peter den Wolf fing“ und es ist dort die Rede davon, dass „Pioniere sich nicht vor dem Wolf fürchten“, so wie Siegfried nicht vor dem Drachen (dem dann auch ein Waldvögelein den Weg weist). Überhaupt hatte Prokofjew mit Märchen zeitlebens viel im Sinn. Schon sein Lehrer Alexander Glasunow hatte ihn nach seiner Jugendkomposition „hässliches junges Entlein“ genannt und einer seiner schönsten Auswege in der Spätzeit massivster Unterdrückung bildete das Märchen „Die steinerne Blume“ als Sujet eines wunderschönen Farbfilms. Zeitlebens fiel er seiner erfahreneren Mitwelt mit seinem naiven Glauben an die Sowjetmacht auf die Nerven, der ihn ja auch in den 30er-Jahren schlimmster Verfolgungen aus dem Westen blindgläubig in die Heimat zurückkehren ließ. Es bekam ihm nicht gut, sein Glaube schützte ihn nicht vor Zurücksetzungen und Verurteilungen bei den ZK-Beschlüssen des Jahres 1948, denen er wieder nur seine gläubige Harmlosigkeit entgegenzusetzen wusste, dabei aber fast verhungerte. Weggefährten erlitten Schlimmeres: Natalia Saz, Leiterin des Moskauer Kindertheaters, die den „Pionier Peter“ beauftragt und uraufgeführt hatte, musste für Jahre ins Lager, weil sie mit dem hingerichteten „Volksfeind“ Marschall Tuchatschewski verheiratet gewesen war.
So konnte ihr Name in Prokofjews Autobiografie 1941 nicht mehr auftauchen. Seine eigene geschiedene erste Ehefrau Lina kam ins Lager, weil sie sich – gebürtige Spanierin – vor Auslandskontakten nicht so ängstlich zurückgezogen hatte, wie Prokofjew selbst dies für sich geraten erscheinen ließ; dabei wurden bei NKWD-Razzien in seiner früheren Wohnung unersetzliche musikalische Dokumente zerstört. Dies alles in schonungsloser Genauigkeit ausführlich darzulegen, zeigt die hohe Kompetenz Friedbert Strellers, der sich als Autor von Jugend an mit Prokofjew beschäftigte: Schon 1972 waren die frühen Sinfonien Prokofjews sein Dissertationsthema gewesen.
Da sammelt sich in Jahrzehnten einiges an Detailinformationen an, aus denen er systematisch Lebenslauf, Werkgeschichte und musikalische wie politische Umwelt des Komponisten – immer in wechselseitiger Symbiose – verfolgt, ohne sich irreführend auf das eine zu konzentrieren und das andere beiseite zu lassen (wie das im Sowjetbereich hinsichtlich der unerwünschten Avantgarde der 20er-Jahre zum Beispiel die Auflage war). Prokofjews musikalische wie politische Utopien werden verfolgt und ohne Bewertung, distanziert aufgezeichnet. Man kann verfolgen, wie diese Vorstellungen ausgesehen haben und wie sie sich in musikalische Gestalt umsetzten (im Abstand eines halben Jahrhunderts eventuell schon fassungslos, aber so sah Osteuropas politische „Geistesgeschichte“ nun einmal aus!).
Von „gesunder Musik“, wie das in den 50er-Jahren in Bezug auf Prokofjew und seine Zeitgenossen angeraten war, um ihr Werk gegen übliche Verurteilung zu verteidigen (Swjatoslaw Richter, Heinrich Neuhaus mussten sich noch so äußern!), ist hier glück-licherweise nicht mehr ernsthaft die Rede. Aber dem Sinn der von Prokofjew seit den frühen 30er-Jahren – also noch im Westen – verfolgten Idee der „neuen Einfachheit“ (er hat den Begriff geprägt!) auf die Spur zu kommen, versucht Streller schon und nicht ohne Berechtigung, da dieses Thema bis zum Jahrhundertende die Gemüter bewegte. Oder wäre neue Einfachheit gleichbedeutend mit neuer Harmlosigkeit? Über den meist eingespielten Komponisten des 20. Jahrhunderts ist dies ein erfreulich informatives Buch.