Über Beethoven schreiben grenzt ans Titanische. Wer mag schon ernsthaft mit Thomas Manns faustischem Beethoven-Bild oder Adornos dialektischer Deutung konkurrieren? Der Germanist Jost Hermand hat’s gewagt und der Leser gewinnt dadurch immerhin einige historische Einblicke hinter die Aura des Genialischen. Sein Buch ist ein Dokument der aktuellen Wiederentdeckung des „politischen Beethoven“ beziehungsweise des Politischen in seiner Musik.
Als ausgewiesener Kenner der Restaurationsepoche betrachtet Hermand „die Klassik“ als revolutionäres Zeitalter. In unseren Tagen, da die 9. Symphonie zur Allerwelts-Hymne zu verkommen droht, leistet sein (im besten Sinne) populärwissenschaftliches Buch eine profunde Aufklärung über den realen Hintergrund von Beethovens pathetischen „Humanitätsmelodien“.
Politische „Intonationen“ wie den Dreiklang von „Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit“ hört Hermand nicht nur im „Fidelio“ oder im Chor der „Neunten“, sondern auch im Instrumentalwerk – Musik als Parole ohne Worte? Der gelernte Literaturwissenschaftler spricht lieber von „Haltungen“, die in Beethovens Musik „zum Ausdruck kommen“: Trotz, Rebellion, Feuer.
Nachdem der Abschied vom „Mythos Beethoven“ bereits Geschichte ist, scheint hier also das alte und oft missbrauchte Klischee vom „Heros“ neu entdeckt zu werden.
Jost Hermand: Beethoven – Werk und Wirkung, Böhlau-Verlag, Köln/Weimar/Wien 2003, 278 S., Abb., € 24,90, ISBN 3-412-04903-4
Doch Jost Hermand zeichnet ein menschliches, „weiches“ Bild des Helden. Die jüngere feministische Kritik an Beethovens „maskuliner“ Musik konterkariert er mit dessen „empfindsamen“ Partien: den Auftakt der „Mondscheinsonate“ möchte er jedoch mehr als „Vorklang besserer Welten“ und weniger als „feminine Zone“ verstanden wissen.
Nicht das bloß Draufgängerische zeichne Beethoven aus – das (politische) Prinzip Hoffnung, das Hohe Lied der Freiheit mache Beethoven zum „Heros“ seiner Zeit. Dieser universelle Idealismus bilde sowohl den „Inhalt“ der „betont heroischen“ Werke (wie der „Eroica“) als auch der Kammermusik.
So spürt Hermand etwa in der meist mystifizierten zweisätzigen Klaviersonate op. 111 ein rebellisches „Weitermachen“: ein Aufbäumen in den von Beethoven beklagten „wüsten Zeiten“ nach dem Ende der Utopien. In diesem „Weitermachen“, einer Kreativität, die an Grenzen des Menschenmöglichen geht, sei Beethoven ein „Wegweiser zu besseren Welten“ – gerade für ironische Zeitgenossen der Postmoderne.
Auf diesen Grenzgängen würde man dem Autor gerne folgen, wenn er Beethovens optimistische Grenzüberschreitungen nicht nur enthusiastisch beschwören, sondern auch analytisch beschreiben würde. So kehrt das alte Beethoven-Pathos nur unter historisch korrekten Vorzeichen zurück: Hermand deutet Beethoven als „musikalischen Schiller“.
Von daher bedeutet für ihn Pathos in der Musik (auch in Gestalt der „Pathétique“) ein trotziges Streben nach Idealen, das in letzter Konsequenz zu einer zeitkritischen „Ästhetik des Widerstands“ führt. Doch sein Eifer, Beethoven als Kind seiner Zeit und nicht als Propheten einer spekulativen „absoluten Musik“ darzustellen, wirft die Frage auf, worin die humane zeitlose Botschaft seiner Musik bestehen soll, wenn nicht darin, Grenzen zu überschreiten? Nicht nur soziale Utopien, auch absolute waren schließlich das musikalische Programm des von Beethoven geprägten Jahrhunderts.