„Wir haben ein Wissen über den Klang, das es vorher nicht gab“, erklärt die Komponistin Kaija Saariaho auf die Frage, wie man Wahrnehmungen heutzutage in Musik übertragen könne. „Wir können ihn [den Klang] von innen her kennenlernen. Das lässt sich mit der Biologie vergleichen, die im Dunkeln tappte, bis endlich das Mikroskop erfunden wurde.“ Klang und Raum können heute in ein neues Verhältnis gerückt werden, behauptet Saariaho, der digitalen Technik sei Dank. Ob das auch zu einer neuen Ästhetik führt? Wer weiß.
Der Vergleich mit dem Mikroskop taugt auch für das von Stephan Mösch herausgegebene Handbuch: „Komponieren für die Stimme. Von Monteverdi bis Rihm“. Vorher gab es für Musiker und Laien allenfalls einzelne Studien, nicht aber ein Buch, das unter systematischen und historischen Gesichtspunkten danach fragt, wie Komponisten das Medium Stimme in ihren Werken eingesetzt haben. So haben wir hier ein lange erwünschtes Hilfsmittel, ein Buch, das selbst als Mikroskop dienen kann. Schon im Einleitungskapitel wird deutlich, wohin die Reise auf knapp 400 Seiten führt: in Richtung eines eng verzahnten Miteinanders von Mikro- und Makroebene. Mösch erklärt, wo und wie sich das Komponieren für Stimme als Lern- und Entwicklungsprozess oder sogar als „Kompositionskritik“ verstehen lässt. Verdi beispielsweise greift in seinem „Rigoletto“ auf Rossinis „Semiramide“ zurück. „Bei der Wahnsinnsszene des Assur hat Verdi [...] besonders genau zugehört [...]: Assur – gerade noch stolz und rachedurstig – wird von einer Schreckensvision überwältigt. Er bricht zusammen und fleht mit einer stockenden, kurzatmigen f-Moll-Kantilene um Seelenfrieden. Die antithetische Zuspitzung findet sich bei Verdi wieder.
Auch Rigoletto ist seiner Stimme kaum mächtig, hat allen Stolz verloren. Auch er bricht zusammen und fleht mit einer stockenden, kurzatmigen f-Moll-Kantilene.“ Allerdings: „Bei Rossini bildet die Tonart eine Folie, vor deren Hintergrund die Singstimme einsetzt, bei Verdi wird sie durch den Auftakt der Singstimme geradezu herbei gezwungen. Zudem hat Verdi [...] die stereotype Begleitung neu modelliert.“
An solch konkreten Beispielen ist das neue Handbuch voll. Das bedeutet zugleich: Der Leser bekommt nicht irgendeinen Schnelleinlauf verpasst, wie man für die menschliche Stimme komponiert (hat). Es braucht Zeit, es braucht Ausdauer, um einzelne Beispiele nachzuvollziehen, sei es anhand von Noten oder von CD-Einspielungen. Dann aber wird die Lektüre erst Recht zum Gewinn. Das gilt besonders für den ersten Teil des Buches. In sechzehn Kapiteln werden einzelne Komponisten exemplarisch vorgestellt, in Beiträgen jeweils namhafter Autoren, darunter Silke Leopold zu Claudio Monteverdi, Thomas Seedorf zu Mozart, Arnold Jacobshagen zu den Belcantisten um Rossini oder Uwe Schweikert zu Verdi. Mösch selbst widmet sich Richard Wagner.
Dass ein Komponieren für Stimme immer auch von bestimmten Interpreten abhängig ist, zeigt etwa das Kapitel von Sabine Henze-Döhring über Pauline Viardot-García, die „bedeutende Repräsentantin“ einer „Umbruchsphase“ zwischen Donizetti, Bellini & Co. auf der einen Seite und Nachrückern wie Meyerbeer und Verdi auf der anderen. Wer über Viardot schreibt, kommt an der großen María Malibran nicht vorbei, und so vernetzt die Autorin in ihrem Aufsatz die stimmlichen Voraussetzungen und Gewohnheiten einzelner Interpretinnen, auch und besonders mit Blick auf die Kunst der Ornamentierung. Verdi etwa hat seine Kadenzen genau ausgeschrieben, aber nach Viardots detaillierter Nachfrage zu einer bestimmten Stelle im „Trovatore“ Einzelheiten (für die französische Version) geändert – ein Beispiel dafür, inwieweit diese Epoche heute als Scharnierstelle gelten darf: Die musikalische Verzierungskunst ist nicht mehr primär Sache der Interpreten (und damit der jeweiligen Interpretation), sondern es entstand ein Austausch mit den Komponisten, der wiederum gesangsästhetisch eine neue Offenheit bewirkt.
Der zweite Teil des Buches enthält Gespräche mit Komponisten der Gegenwart, darunter John Adams, Helmut Lachenmann, Aribert Reimann, Wolfgang Rihm und Jörg Widmann. Dadurch erhält der historische Schwerpunkt des ersten Teils nicht nur ein Gegengewicht im Hier und Jetzt, sondern einige der gewonnenen theoretischen Aspekte lassen sich nun theaterpraktisch anhand der Aussagen der Komponisten nachprüfen oder vertiefen. So erklärt etwa Peter Eötvös, dass Stile sich aus jedem einzelnen Werk neu, aus jedem Stoff ergeben, erst recht, wenn die Libretti auf unterschiedlichen Sprachen basieren. „Stile sind nicht Mittel zum Zweck, sondern sie entstehen aus der Sache selbst.“ Was auch bedeuten könnte: Eine verallgemeinernde Betrachtung der Musik der Gegenwart wird, im Gegensatz zu früheren Epochen, immer schwieriger. Auch in diesem zweiten Teil halten sich Abstraktion und Konkretheit der Ausführungen die Waage, etwa wenn Beat Furrer erklärt, wie er in einer Stelle von „Fama“ Stimme und Kontrabassflöte so kombiniert, dass die Grenzen, an denen die Stimme aufhört und das Instrument beginnt, verschwimmen – „eine Verschmelzung der Energien“. Auch das ist eine der zahllosen Möglichkeiten, für Stimme zu schreiben, sie instrumental einzubinden oder abzuheben …
Natürlich ist dieses Handbuch kein Regelwerk, wie man für die Stimme komponiert. Es liefert eine Fülle an Befunden, an Erkenntnissen, an Thesen. Das macht dieses Buch nicht nur reichhaltig, sondern ungemein differenziert. Es garantiert eine Lektüre, die den Leser beschenkt, animiert, herausfordert.
- Stephan Mösch (Hrsg.): Komponieren für Stimme. Von Monteverdi bis Rihm. Ein Handbuch, Bärenreiter, Kassel 2017, 389 S., Abb., Notenbsp., € 39,95, ISBN 978-3-7618-2379-8