Das handliche hochformatige Heft ist ohnehin nicht genau einzuordnen, es ist irgendwo zwischen CD-Reklame und Popkultur-Szene-Report angesiedelt, mit flott geschriebenen Beiträgen in der Ichform, der neuesten Befindlichkeit nachspürend und voll mit der Nase im Wind. Das Themenspektrum ist bunt und weit. Die spinnen, die Finnen, Radikale Grenzerfahrungen, Latin Music in New York City sind einige der Titel.
„Hurra, die letzten Winkel unseres Daseins sind nun endlich dank der milden Gaben der Werbewirtschaft mit Leben erfüllt,“ schreibt der Kolumnist Alexander Nev in „Notes“, einem Promotionblatt der CD-Firma Indigo und trägt damit gleich sein Teil zum kritisierten Zustand bei. Aber vielleicht will er ja gar nicht kritisieren, sondern nur konstatieren. Das handliche hochformatige Heft ist ohnehin nicht genau einzuordnen, es ist irgendwo zwischen CD-Reklame und Popkultur-Szene-Report angesiedelt, mit flott geschriebenen Beiträgen in der Ichform, der neuesten Befindlichkeit nachspürend und voll mit der Nase im Wind. Das Themenspektrum ist bunt und weit. Die spinnen, die Finnen, Radikale Grenzerfahrungen, Latin Music in New York City sind einige der Titel. Doch wie schwer haben es die Klassikverkäufer! Da ist einmal die vielzitierte Würde des Gegenstandes, der, wie es heißt, allzu saloppe Werbemethoden verbiete. Doch dann gibt es die selbstgemachten Probleme: Das Repertoire, in freiwilliger Selbstkontrolle von anrüchiger Moderne weitgehend freigehalten, ist fest wie Zement, seine Highlights sind allgemein bekannt. Das Publikum ist zum geduldigen Wiederkäuer dressiert, der Begriff „Klassik“ zum Anreiz für sozialen Prestigegewinn degeneriert.Was kann da überhaupt noch verkauft werden? Die Komponisten, die Interpreten, oder gar die Werke? Oder nur noch Imagetransfer? Schon die richtigen Bilder für Déjà-vus zu finden – denn Werbung läuft heute vor allem über das Auge – macht Mühe. Der grimmige Ludwig, der bärtige Johannes und das kleine Wolferl senden in unseren visuell überreizten Zeiten nur mäßig verkaufsfördernde Signale aus.
Und die vielen schönen Interpreten und Interpretinnen? Jahrzehntelang ernährte sich die Klassik-Promotion optisch von den immergleichen Frackträgern mit Smokingfliege, die mit Vorliebe vor barocken Fassaden oder schwarzpolierten Konzertflügeln posierten oder mit großer Geste vor dem Orchester herumfuchtelten. Dieses Langweilerimage versucht sie zwar nun mit aller Kraft abzuschütteln. Doch das ewige schulterfreie Abendkleid der Mutter hilft der müden Branche so wenig auf wie die spröde Erotik von drei Geigengirlies. So weit wie „Notes“, die einen Remix des 80er-Jahre-Klassikers „Kaltes klares Wasser“ mit einem schönen nackten Unterleib in der Badewanne bewerben (Achtung Lesetip: Seite 7!), kann sie mit Rücksicht auf das große E im Produktnamen nicht gehen.
Seit einiger Zeit probiert die E-Musik-Tonträgerbranche neue Schleichwege aus, um ihrem Reservat der gepflegten Langeweile zu entkommen und neue Käuferschichten anzusprechen. Sie hat sich bei den Pop-Kollegen umgeschaut, und deswegen ist zur Zeit Crossover angesagt. Dieses Rezept haben seinerzeit die drei Tenöre auf dem weiten Feld der Canzona zu einem Riesenerfolg gebracht. Doch inzwischen will das anspruchsvolle urbane Publikum mehr als kleinbürgerliche Urlauberromantik mit „O sole mio“ und hohem C. Heutiges kommerzielles Crossover ist ein Mix für Globetrotter in äußere und innere Welten und enthält Ingredienzien von Mittelalter über World und Jazz bis zu Filmmusik, Soft-Elektronik und Religion. Da hat dann sogar die neue Musik oder das, was dafür gehalten wird, ihren Platz.
Zuvorderst ist es Musik von Komponisten, die in unseren rohen Zeitläuften die metaphysischen Kuschelbedürfnisse rasch und zuverlässig bedienen können. Dazu gehören Arvo Pärt, der mit seinen Mittelalter-Fakes der religiöse Topseller unter den E-Musikkomponisten ist, sein Antipode John Tavener, ein englischer Ivan Rebroff der Kirchenmusik, oder Gija Kancheli, dessen Kaukasus-Nostalgie auch harte Männer das Weinen lehrt. Auch interpretatorisch wird Mix offeriert, so etwa auf der CD „Good Medicine“ des englischen Smith Quartets mit Werken von Riley, Newman, Webern, Nancarrow, Pärt und anderen. Laut Firmenwerbung „hochspannende Klassiker der Moderne, des Minimalismus und der Avantgarde: Schräge Klänge, heiße Rhythmen, meditative Versenkung“. Inhalte sind wurscht, die Hauptsache ist, dass die Werbung fetzt. Unter dem Titel Crossover mischen die CD-Firmen ihrer Klassikwerbung die entlegensten musikalischen Phänomene bei: portugiesischen Fado mit Misia, die Imitation von Haustieren mit Karen Mantler (EMI: „In ihren Stücken finden sich Anklänge an Neoklassik, an Rock, Pop, Jazz und Ethno“), moderne Schnulzen mit James Galway (BMG-Gattungsetikett: „Crossover“), Musik von Troubadours und Flagellanten mit der Gruppe Estampie (Warner Classics: „Estampie sucht die Begegnung und Überschneidung mit anderen Stilarten, denn dieser ‚Crossover’ verstärkt die einzigartige Schönheit und Wucht, die in der Musik des Mittelalters liegt.“). Und immer wieder Filmmusik. Sie wird gegenwärtig mit allen Mitteln gepuscht; offenbar ist die „CD zum Film“ ein Verkaufsargument. Während der Film-Berlinale lud Warner Classics im Februar zur Präsentation der neuen CD des chinesischen Filmkomponisten Zhao Jiping in den Französischen Dom am Gendarmenmarkt ein: „Freuen Sie sich auf eine spektakuläre Licht-Klang- Präsentation in Anwesenheit von Zhao Jiping.“
Die PR-Materialien der CD-Firmen gleichen gegenwärtig ohnehin mehr der Werbung von Konzertagenturen. Die Tourneedaten der Stars nehmen oft mehr Platz ein als die eigenen CD-Veröffentlichungen. Der Publicity fördernde Synergieeffekt entsteht dann mit Pressekonferenzen und „persönlichen Begegnungen“, die im Verlauf der Tournee organisiert werden. Klar, dass solche Roadshows mit Künstlern gemacht werden, die sich auch von der Personality her vermarkten lassen. Das Motto lautet: Bekannt aus Film, Funk und Fernsehen. Der grummelig-introvertierte Klassikinterpret alten Stils ist da nicht zu gebrauchen.
Die Strategie von Crossover und Event-Marketing scheint momentan eine reale Marktperspektive zu sein. Was verkauft wird, ist dabei ziemlich egal, Hauptsache, es wird in den Bilanzen unter „Klassik“ verbucht. Für die notleidenden Klassikabteilungen in den Konzernen mag das kurzfristig ein Rettungsanker sein, der sie vor weiterem Downsizing bewahrt. Eine langfristige Perspektive ist es nicht, nicht unter wirtschaftlichen und schon gar nicht unter kulturellen Gesichtspunkten. Im wirtschaftlich-kulturellen Umbruch, den wir gegenwärtig erleben, sind grundsätzliche Überlegungen gefragt. Doch dafür hat die Tonträgerindustrie kein Gehör, und diejenigen aus dem kulturellen Sektor, die dazu fähig wären, kommen in der Regel über kulturkritisches Lamentieren alten Stils nicht hinaus.
Also wird weitergewurstelt, und es bleibt bestenfalls die Hoffnung auf die kleinen Labels, deren wirtschaftliche Stabilität sich leider reziprok zu ihrem Engagement verhält. Doch wir freuen uns über jeden Ansatz zu kultureller Kompetenz. Zum Beispiel über die bemühten Superlative, mit denen beim Multi Warner die grandiose Aufnahme von Messiaens „Vingt regards“ durch Pierre-Laurant Aimard angezeigt wird: „Er gehört zu den berufenen künstlerischen Erben des großen Komponisten Olivier Messiaen und zu den bedeutendsten Interpreten zeitgenössischer Klaviermusik“ und so weiter. Soll man hoffen, dass diese Sprache jemanden bei Warner Classics dazu animiert, sich die CD einmal anzuhören?