Leo Kestenbergs wirkungsmächtigste Zeit war diejenige, als der aus dem ungarischen Rosenberg stammende jüdische Pianist als Musikreferent im Preußischen Bildungsministerium wirkte. Von diesem Lebensabschnitt ist, geht man nach offiziellen schriftlichen Quellen, heute nicht mehr viel übrig. Die hierzu aussagekräftigen Akten des einstigen Ministeriums für Kunst, Wissenschaft und Volksbildung sind im Zweiten Weltkrieg vernichtet worden.
Doch nicht nur deshalb hat Wilfried Gruhn in seiner Biographie über den Bildungs- und Kulturpolitiker Kestenberg einen nicht geringen Teil dessen zweitem Leben im Exil in der Tschechoslowakei sowie in Israel gewidmet. Dorthin wanderte Kestenberg, 1933 als Jude und Sozialist aus Deutschland geflohen, im Jahr 1938 endgültig aus. Gruhn macht in seiner Biographie klar, dass Kestenberg mit einiger Energie in Tel Aviv noch einmal ganz von vorne anfing, sich aber auch hier sein beruflicher und persönlicher Schwerpunkt der Musikerziehung wie ein roter Faden durch seine Arbeit zog, gekrönt vom Aufbau eines Musikerziehungsinstituts. Es war tatsächlich derjenige Schwerpunkt seiner beruflichen Tätigkeit, bei welchem Kestenberg das bei ihm sprichwörtliche Beharrungsvermögen und diplomatische Geschick lebenslang aufbrachte – jenes Geschick, mit welchem er in der Musikszene der Weimarer Republik so großen Erfolg gehabt hatte. Im ersten israelischen Brotjob als Generalmanager des neugegründeten emigrantischen Palestine Orchestra dagegen hatte Kestenberg bei Weitem nicht so viel Geduld.
Doch auch Kestenbergs berühmtere, wenn auch stärker auf Basis von Zeitzeugenberichten und der Autobiographie „Bewegte Zeiten“ nachvollzogene Ära in den Zwanzigerjahren in Berlin wird ausgiebig beleuchtet. Das Buch beinhaltet in seinem ersten Teil eine Beschreibung des mühsamen Weges, den die Kestenberg-Reform in den Zwanzigerjahren nahm. Gruhn betont, dass bis dahin – und auch danach – nie jemand einen solch umfassenden Entwurf zur musikalischen Bildung in Deutschland vorgelegt hat. Zu Recht könne Kestenberg als Erfinder des modernen Musikunterrichts gelten, so Gruhn. Zuvor gab es in der Schule eben nur den Gesangunterricht, dem es weniger um musikalische Bildung als um nationale Propaganda ging. Gruhn verdeutlicht Kestenbergs damals revolutionären Anspruch, dass jedes Kind ab dem Kindergarten und der Volksschule „Anspruch auf wirkliche Kunst“ (Kestenberg) habe, und Gruhn macht auch klar, dass es diese Forderung war, die damals die gesamte deutsche Lehrerschaft geradezu verstörte.
Gruhn schildert plausibel den historisch eigentlich überraschenden Umstand, dass ein Musiker und Vertreter der Volksbühnenbewegung wie Kestenberg in dem chaotischen Revolutionsjahr 1919 als Musikreferent ins Bildungsministerium der neuen Republik gespült wurde – zweifellos als schillernder Außenseiter im weitgehend intakten preußischen Beamtenapparat. Auch für den Biographen gilt die konservative Annahme nicht mehr, dass Geschichte von einsamen gro-ßen Männern gelenkt wird. Nie war Kestenberg mit politischer Entscheidungskompetenz ausgestattet, sondern agierte eher als geschickter und musikalisch sachverständiger Berater. Und doch hat das Bild vom einsamen Großen im Fall von Kestenberg als Bildungspolitiker durchaus seine Berechtigung. Der vergrub sich in den Aktenbergen der preußischen Bürokratie und verlor doch sein Ziel einer musikalischen Bildung für alle Bevölkerungsschichten nie aus den Augen. Kestenbergs Durchsetzungsvermögen beruhte auf seinem Überblick, seinem Sinn für langfristige bürokratische Prozesse und seiner Fähigkeit, mit Widerspruch umzugehen. Wenn auch der Widerspruch gegen eine liberale, offene und für alle zugängliche Musikerziehung damals aus dem rechtsnationalistischen Lager sehr offen artikuliert wurde und wenn dagegen heutige Diskussionen um schulischen Musikunterricht wie harmlose bürokratische Scharmützel wirken, so entdeckt man als Leser doch in der Geringschätzung musikalischer Bildung in weiten Kreisen der gesellschaftlichen Elite deutliche Parallelen zur heutigen Situation.
- Wilfried Gruhn: Wir müssen lernen, in Fesseln zu tanzen. Leo Kestenbergs Leben zwischen Kunst und Kulturpolitik, Wolke, Hofheim 2015, 238 S., Abb., € 28,00, ISBN 978-3-95593-062-2