nmz 2000/10 | Seite 26
49. Jahrgang | Oktober
IG Medien
Schlager und Politik, die sagen nicht ade
Populäre Musik nach 1945 in der Bundesrepublik und der DDR, Teil I · Von Christine Wagner
Der Titel des Buches muss entrüsten. Jedes Kind weiß doch, dass Schlager lügen und uns eine heile Welt vorgaukeln. Auf spannende Weise, belegt mit reichlich Fakten, bleibt Andrè Port le roi über 224 Seiten in dem bei Klartext veröffentlichten Werk „Schlager lügen nicht” bei seiner Behauptung. Und er schafft es, den Leser von seinen Irrungen zu befreien.
Schon das Cover müsste ihn stutzig machen: Die Pose des Guildo Horn, kampfesmutig beide Hände zur Faust geballt, erinnert an das Größengebaren manches sich populistisch gebenden Politikers. Noch haben die nicht den Mut, frosch-grün wie unser aller Guildo um die Gunst zu buhlen. Aber Gerhard Schröder hat der Öffentlichkeit schon des öfteren hervorragend bewiesen, dass Marketing-Konzepte für größere Aufmerksamkeit sorgen als politische Inhalte. Und so scheint es logisch, dass Willi Brandt wie ein Zwerg aus vergangener Zeit an Guildos Brust klebt. Mit seinem bescheidenen schwarzen Anzug hätte Willi heutzutage kaum noch Chancen, das Machtspiel zu gewinnen. Aber Gerhard hat sich ohnehin Ex-Kanzler Schmidt zum Vorbild erwählt. Er passt besser zum Comeback der 70er-Jahre.
Das politische Gewissen der Zeit spiegelte sich schon 1916 beim Operettenkönig Robert Stolz. „Du bist der Kaiser den ich wähle und deine Wünsche sind Befehle. Gehorchen wird dir meine Seele, die ich so ganz dir anvertraut!“, schrieb er zum 60. Krönungsjubiläum. Katzbuckeln sollte das Volk. Es nützte nichts – vier Jahre später war der Krieg verloren. Arbeiter und Soldaten machten Revolution, wenn auch nicht erfolgreich. Dennoch brachte sie neue Freiheiten und wirtschaftliche Krisen, die Komponisten und Texter inspirierten.
Frivoler und zeitkritischer wurde er nun, der deutsche Schlager. „Pleite, pleite sind heut’ alle Leute” und „Wir versaufen unser Oma ihr klein Häuschen“ wurden zu Hymnen der Inflationszeit.
Angesichts der Plattheit heutiger Texte ist es kaum zu glauben, mit wie viel Humor der Schlager sich über heftige Krisenzeiten – politische Unruhen, Rheinlandbesetzung, Inflation – rettete. „Wie sich doch die Zeiten ändern, ewig schwenkt es hin und her dreh’ und wend’ ich mich auch noch so sehr ich hab die Taschen leer“ schrieben 1924 Hans Pflanzer und Victor Corzilius. „Früher hätt’ man sich darob wohl sehr geniert, heute wird damit auch noch renommiert, sitz ich in Dallas, pfeif’ ich auf alles!“
Die Deutschen vergnügten sich trotz Hyperinflation prächtig, was dem Schlager Auftrieb zu einmaliger musikalischer und textlicher Qualität verschaffte. Kein Wunder, dass mangels neuer Songs Couplets von Claire Waldorf, Fredy Sieg und Wilhelm Bendow im krisengeschüttelten Berlin der 90er-Jahre ihre zweite Blüte feiern. „Das gibt’s nur einmal, das kommt nicht wieder... Das kann das Leben nur einmal geben, denn jeder Frühling hat nur einen Mai!“
Der Anfang der 30er-Jahre diente als beschwingter Abgesang auf jene Weimarer Zeit. Viele Juden, die den deutschen Schlager und seinen Vorgänger, die Operette, maßgeblich geprägt hatten, wanderten in die USA aus. Wenn uns Hitler erspart geblieben wäre, vielleicht hätte der Rock’n Roll von Deutschland aus die Welt erobert.
Mit den Nazis und ihrer Extremisierung der Gesellschaft verschwand der Humor aus dem deutschen Schlager, der inzwischen auch im Tonfilm ein Medium zur Verbreitung gefunden hatte. Dafür wurde er romantischer, schnulziger und sentimentaler. Die vom Publikum geliebten Stars wie Heinz Rühmann, Hans Albers, Marika Röck, Zarah Leander, Johannes Heesters, Ilse Werner und andere arrangierten sich mit der Diktatur, um weiter Filme und Schlager produzieren zu können. Marlene Dietrich gehörte zu den Ausnahmen, die sich als Nichtjuden aus Deutschland zurückzogen.
Marschhymnen wie „Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern“ bereiteten emotional auf den Krieg vor. Den Zeilen „Wozu ist die Straße da, zum Marschieren, zum Marschieren durch die ganze Welt“ hatte Hans Lang eine Melodie gegeben. Aus dem Wanderlied wurde ein von wohl jeder Kompanie gesungenes Lied der deutschen Wehrmacht.
„Davon geht die Welt nicht unter, sieht man sie manchmal auch grau. Einmal wird sie wieder bunter, einmal wird sie himmelblau.“ und: „Ich weiß es wird einmal wird ein Wunder geschehn und dann werden tausend Märchen wahr“ als musikalische Durchhalteparolen kochten die Hoffnungen auf den Endsieg an.
Die Chance, an die 20er-Jahre anzuknüpfen, hatte der deutsche Schlager erst wieder nach der Kapitulation 1945. Swing, Jazz und all die von den Nazis verteufelte „entartete Musik” hauchten ihm neues Leben ein. Die Briten und Amerikaner brachten sie mit in ihre Besatzungszonen und in die Rundfunkstationen, die sie kontrollierten. So übernahm Radio München „Midnight in Munich“ vom amerikanischen Soldatensender AFN.
Doch nicht lange wollten sich die Deutschen nach vorn orientieren. Schon mit der folgenden „Italienwelle“ – Italien war Deutschlands Verbündeter im Zweiten Weltkrieg und zu jener Zeit gern in Schlagern wie „O mia bella Napoli“ (’38), „Frühling in Sorrent“ (’40) oder „Chiantilied“ (’42) besungen worden – sehnten sie sich wieder wehmütig nach alten Zeiten.
Nach dem Sturz Mussolinis 1943 waren Italien-Schlager zwar tabu – doch die schon während des Krieges komponierten „Caprifischer“ feierten dennoch ihren Erfolg als erster Hit der Nachkriegszeit. „Bella, bella, bella Marie, bleib mir treu, ich komm zurück morgen früh...“ „Florentinische Nächte“, „Im Hafen von Adano“ folgten. Und mit ihnen die wieder auftauchenden Sehnsüchte nach der Heimat, Abschiedsschmerzen und Hoffnungen, dass einer käme, „sie“ für immer zu erlösen.
Verheiratete Frauen warteten auf die Wiederkehr ihrer Ehemänner, die sich in Zeilen widerspiegelten wie „Bei mir zu Haus, da blüht für dich ein schöner Garten. Bei mir zu Haus, da scheint die Sonne für uns zwei“. Und falls er doch nicht käme, trösteten Worte wie „Es wird ja alles wieder gut; nur ein klein bisschen Mut, lässt das Glück dich auch mal allein!“ Die Deutschen hatten eben wie einst in allen Lebenslagen zu bestehen wie „Der Theodor im Fußballtor“ (1948): „wie der Ball auch kommt, wie der Schuss auch fällt, der Theodor, der Held, der hält“.
Als die Arbeitslosigkeit zwei Jahre später in die Höhe schnellte, sang dann Jupp Schmitz „Wer soll das bezahlen, wer hat das bestellt?“. Doch das Wirtschaftswunder ließ nicht lange auf sich warten – und Friedel Hensch sang „Kinder ist das Leben schön“.
Aus Hits wie „Das alte Forsthaus“ oder „Försterliesel“ dagegen tropfte zu Beginn der 50er-Jahre die Sehnsucht nach der verloren gegangenen Heimat im Osten. Freddy Quinn sang gar von „Heimweh“. Der Mann mit dem bewegten Schicksal, der nach der Trennung der Eltern in die USA mit dem Vater auswanderte, als Schiffsjunge zur See fuhr und tatsächlich Heimweh hatte, wurde zum authentischen Idol. „Junge, komm bald wieder“ schluchzte er.
Seemannslieder, die immerzu Abschied feierten, bestimmten die Trends der 50er-Jahre maßgeblich. Aber auch im Westernschlager, untermalt mit der zitternden Stimme der Hawaiigitarre, kreierten die Deutschen in Schlagern wie „Es hängt eine Pferdehalfter an der Wand“ ihre Sehnsüchte nach der ach so romantischen Prärie und dem Cowboyleben. Oder war’s ein Bekenntnis zur Besatzermacht USA, um sich vom anderen Deutschland auch im Schlager abzukapseln? Es scheint, als habe die Mehrheit der Deutschen nie um den Verlust getrauert. Hätte sich sonst die Volksmusik zum größten deutschen musikalischen Massenphänomen entwickeln können?
Zum Glück gab es immer wieder gegenläufige Tendenzen: Der Erfolg von Bill Haleys „Rock around the clock“ war vielleicht so etwas wie ein Versuch der Jüngeren, aus der „heilen“ Welt der Eltern auszubrechen. Egal, ob dabei einige Möbel zu Bruch gingen wie beim Auftritt des Amerikaners 1958. Die ewigen Rivalen Peter Kraus und Ted Herold verkörperten in Deutschland den Typ der Halbstarken – mit Tolle, Lederjacke und englischem Rock’n Roll ein eher braver Ersatz für den rebellierenden Elvis.
Lebendiger wurde es im deutschen Schlager mit dem politischen Generationswechsel 1963 und den darauf folgenden Unruhen. Die Konservativen freilich schmiedeten ein Komplott gegen Gammler und Vietnam-Kriegsgegner. Der gute Freddy als deutscher Saubermann sang „Wer will nicht mit Gammlern verwechselt werden? – Wir! Wer sorgt sich um den Frieden auf Erden – Wir!“ – um dann mit „Hundert Mann und ein Befehl“ ins fremde Land einzurücken, denn: „Wir kämpften in unserer Kolonie für Freiheit und Demokratie“. Mit süßlicher Stimme widersetzte sich Roy Black den Beatles und den Stones und damit auch stückweise den Idealen der 68er – eben „Ganz in Weiß“, weil „Du bist nicht allein“. Nicht zu vergessen die sentimentale Welt des Kinderstar Heintje, der „Mama“ tröstete.
Spätestens mit der Ära Brandt mischten sich Optimismus und der Wille zu neuen Visionen auch in den Schlager. Gitte parodierte schon Mitte der 60er selbstbewusst Westernschlager in „Ich will ’nen Cowboy als Mann“. Einer, der auch küssen kann. Das war neu – Frauen, die ihr Recht auf Sexualität, wenn auch zaghaft versteckt, kund taten. Wenig später röhrte Rita Pavone „Wenn ich ein Junge wär“.
Plötzlich fand der kleinbürgerliche, eher rechte deutsche Schlager eine Vielzahl von Gegenspielern – Juliane Werding, Udo Jürgens, Peter Maffay und Katja Ebstein zum Beispiel. Gesellschaftlicher Aufbruch wie Frauenbewegung, Friedens- und Ostpolitik, sexuelle Revolution oder die jugendliche Protestbewegung spiegelten sich in ihren Songs wider. Selbst Homosexualität blieb kein Tabuthema mehr – zumindest bei Bernd Clüver und „Der kleine Prinz“.
Die Neue Deutsche Welle sorgte für „Ich will Spaß“ – bis die Deutschen mit Kohl wieder einen konservativen Kanzler auf den Machtsessel hievten. Maffay beschwor die „Eiszeit“ und Nicole „Ein bisschen Frieden“. Doch schnell glühte ein neuer Stern am Horizont, der bis heute die Gemüter der Massen in Bewegung hält: die Volksmusik.
Leider verliert der Autor kein Wort über den DDR-Schlager. Wie spannend wäre es doch gewesen, Udo Jürgens und Frank Schöbel, Juliane Werding und Gaby Rückert oder Heino und Roland Neudert miteinander zu konfrontieren.
Der Blick in die Geschichte fördert recht interessante Parallelen zu Tage. Die sowjetische Besatzungsmacht beauftragte das RTB-Orchester schon kurz nach dem Ende des Krieges, am 27. Mai 1945, mit Tanzmusik für Stimmung im Volk zu sorgen. Es spielte Boogie Woogie, Swing und Jazz, sein Sound knüpfte an die 20er- und 30er-Jahre an. Da Originaltitel aus den USA und anderen Ländern erst zu Beginn der 50er-Jahre in den Handel kamen, übernahmen auch andere Künstler amerikanische Hits – entweder mit englischem Originaltext oder mit deutschen Fassungen. So orientierte sich der „Kötzschenbroda-Express“ am Original von Glenn Miller „Chattanooga choo choo“. Später machte Udo Lindenberg den „Sonderzug nach Pankow“ daraus.
Leider entmachtete Stalin seine fortschrittlichen Kulturoffiziere – und änderte mit dem ZK-Beschluss der KPdSU 1948 gegen den „Formalismus“ die politische Richtung. Alle englischen Titel sowie Schlager, in denen Worte wie Tränen oder Mondschein vorkamen, wurden verboten. Mit einem Streik der beiden Dirigenten Kudritzki und Lehn sowie 21 Musikern und einem Pfeifkonzert endete im Mai 1950 der Versuch, mit dem Streichen englischsprachiger Songs das RTB-Orchester in ein sozialistisches Kollektiv umzuwandeln. Das Orchester löste sich auf. Viele Künstler verließen die junge DDR – Kurt Henkels, Leiter des Orchesters vom Sender Leipzig, Evelyn Künneke, der „schräge Otto“ Fritz Schulz-Reichel und andere Stars der Nachkriegszeit.
Der Platz war frei für die erste DDR-Schlagersängergeneration mit Fred Frohberg, Sonja Siewert, Herbert Klein und andere. Der Ostschlager der 50er- und 60er-Jahre schmachtete nicht weniger sehnsuchtsvoll wie sein Bruder im Westen nach der totalen Harmonie im kleinbürgerlichen Milieu. Während Lolita im Westen 1960 vom „Seemann, deine Heimat ist das Meer“ sang, beschwor Jenny Petra ein Jahr später ostwärts der Elbe „Weiße Wolken, blaues Meer und du“.
Fortsetzung in der nmz 11/00