Ethel Smyth: Paukenschläge aus dem Paradies. Erinnerungen, hrsg. von Heidi Feilhauer, ebersbach & simon, Köln 2023, 256 S., € 24,00, ISBN 978-3-86915-286-8
Sie ist vom Stamm der Pioniere
Protestmärsche, Rangeleien mit der Polizei, mehrere offen lesbische Beziehungen, vielfach geübte Steinwürfe, zwei Monate Gefängnishaft – nein, sie war nicht „Letzte Generation“- oder „Friday“-Mitglied. Sie unterhielt auch enge erotische Männerfreundschaften, war aber eben Partnerin von Emmeline Pankhurst, Komponistin der europaweit bekannten, kämpferischen Frauenrechts-Marschhymne mit dem Refrain „… der Morgen bricht an!“; dazu: tiefe Freundschaft mit Virginia Woolf, dann Ehrendoktorwürden, eigene BBC-Sendung, schließlich „Dame Commander of the British Empire“ – all das kennzeichnet die britische Komponistin und Frauenrechtlerin Ethel Smyth.
Als Generalstochter wurde sie 1858 in London geboren, der konservativ denkende Vater wollte sie lieber unter der Erde denn als Musikerin sehen. Daraufhin weigerte sich die vife, streitbare Tochter phasenweise überhaupt zu sprechen und trat schließlich sogar in den Hungerstreik – mit dem Ergebnis, dass sie 1877 ans Leipziger Konservatorium durfte. Dort war sie die erste weibliche Studentin in der Klasse von Carl Reinecke. Die Begegnung mit dem Ehepaar Herzogenburg, engen Freunden von Johannes Brahms, führte zu vielfachem Privatunterricht und Bekanntschaft mit Grieg und auch Tschaikowsky. Ihre Kammermusik-, Lied- und geistlichen Kompositionen fanden Wertschätzung und erlebten Einzelaufführungen – eher der Spätromantik denn der 1900-Moderne zugewandt. Die weltweite Aversion gegen alles Englische aufgrund der Burenkriegsgräuel verhinderten etwa eine von Bruno Walter geplante Opernuraufführung in München; er dirigierte dann 1910 ihre bedeutendste Oper „The Wreckers“ („Strandrecht“) in Leipzig. Eine Frau als Komponistin sowie die Ausbildung Smyths in Deutschland und ihre Affinität zu diesem Land waren in England grundsätzlich hinderlich; dann erschwerte der Erste Weltkrieg Aufführungen der Engländerin Smyth etwa in München, Leipzig, Wien oder Prag. Hilfreich erwies sich adeliges Mäzenatentum bis hin zu Queen Victoria und Anerkennung durch Dirigenten wie Arthur Nikisch oder Thomas Beecham wie auch durch den intellektuell unvoreingenommenen Musikkritiker George Bernard Shaw. Dennoch steht sie bis heute im Schatten: Ihre hochgerühmte „Messe in D“ ist kaum zu hören; erst 2022 wurde ihre Oper „The Wreckers“ im sonst auf Exquisites ausgerichteten Glyndebourne aufgeführt: eine dramatisch packende Handlung um ein düsteres Küstendorf, das an Cornwalls Klippen gezielt Schiffbrüche herbeiführt, Überlebende ermordet und sich am Strandgut bereichert, wogegen ein Liebespaar ankämpft. Inzwischen sind einige Werke auf CD erschienen.
Doch auch auf einem weiteren Gebiet ist Ethel Smyth, die im Alter ertaubte, aber bis zu ihrem Tod 1944 selbstironisch rührig blieb, die Entdeckung wert: als Schriftstellerin. In zehn autobiografischen Bänden erzählt sie temporeich, amüsant und erfrischend. Ihre „unweiblich“ abenteuerlichen Reisen lesen sich unterhaltsam… und der Musikfreund erfährt viele reizvolle Einzelheiten. Darauf macht Heidi Feilhauers Auswahl-Band Appetit, ganz im Sinne der Charakteristik Ethel Smyths durch Virginia Woolf: „Sie ist vom Stamm der Pioniere, der Bahnbrecher. Sie ist vorausgegangen und hat Bäume gefällt und Felsen gesprengt und Brücken gebaut und so den Weg bereitet für die, die nach ihr kommen.“ Eben eine außergewöhnliche Frau … auch fürs deutsche Musikleben eine Bereicherung.
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