Die Jubiläumsglocken läuten in diesem Jahr besonders in Köln sehr laut, denn dort wurde vor 200 Jahren Jacques Offenbach geboren. Das Offenbach-Jahr wird Vieles bringen. Auch die Offenbachliteratur ist um neue Publikationen angewachsen. Eine Blütenlese:
Die Fehleinschätzung des Höllengalopps aus der Opéra bouffon „Orphée aux Enfers“ gehört zu den unausrottbaren Klischees und Legenden der Offenbachrezeption. Heiko Schon stellt klar: „Offenbach hat gar keine Cancans komponiert, sondern Galopps.“ Tatsächlich hat Offenbach niemals die frivolen, beineschwingenden, kreischenden und Unterwäsche zeigenden Damen in seinen Werken auftreten lassen. Der sogenannte „French Cancan“ ist eine kommerzielle Tanzmode einschlägiger Nachtlokale, für die man nach Offenbachs Tod seine Musik okkupierte. Welcher Tanz für Offenbach und seine Zeit weit bedeutender war, liest man im Kapitel „Jacques Offenbach und der Wahnsinn der Beine“: „Der Walzer steht exemplarisch für das Zweite Kaiserreich, ist er doch gleichzeitig Rausch, Traum und Taumel, Realitätsflucht und melancholische Erinnerung. Offenbach [...] lässt ihn [...] durch sein gesamtes Œuvre wirbeln.“
Mehr als einhundert von etwa 150 Offenbach-Stücken stellt Schon immerhin vor, immer nach der gleichen Methode: Worum geht es? Was steckt dahinter? Zu den stärksten Nummern und am Ende jeder kurzen und bündigen Werkdarstellung gibt er unter der Rubrik „Zum Reinhören“ persönliche CD- oder DVD-Tipps. Eingebettet sind die Werkbeschreibungen in 16 thematisch orientierte Kapitel, in denen es um das „Cello“ geht, Offenbachs Lieblingsinstrument, um „Spuren am Rhein“, um die „Frauen“, um die „Travestie“ oder um „rasselnde Säbel“, um nur einige Themen zu nennen. Das Buch von Heiko Schon ist leicht lesbar, mit flotter Feder geschrieben und eignet sich bestens als erster Einstieg ins Thema Offenbach.
Lebens- und Karrierestationen
Wer mehr und Genaueres wissen will über den Entertainer wie Spötter des Zweiten Kaiserreichs, wird bei Ralf-Olivier Schwarz fündig. Er geht entschieden gegen „das schöne, schiefe Bild“ Offenbachs an, das sich bis heute hartnäckig hält und spannt einen weiten Bogen, um eine europäische Ausnahmepersönlichkeit darzustellen. Chronologisch werden Lebens- und Karrierestationen Offenbachs umrissen, seine jüdisch geprägte Kindheit in Köln mit dem prägenden Eindruck des Kölner Karnevals , aber auch der jüdischen Spielmanns- und Synagogenmusik, seine Pariser Karriere als Cellovirtuose, seine Theaterlaufbahn an unterschiedlichen Bühnen der Seinemetropole (Comédie-Française, Bouffes-Parisiens, Théâtre des Variétés, Opéra Comique) sowie seine Auslandsgastspiele in Bad Ems, Wien und in den USA. Schwarz verdeutlicht die beispiellose Erfolgsgeschichte eines der originellsten Komponisten des 19. Jahrhunderts, dessen rebellisches, satirisches Musiktheater seinesgleichen suchte und dessen Biografie „sowohl den wechselseitigen, produktiven und reichen kulturellen Einfluss zwischen Frankreich und Deutschland als auch die politischen Zerwürfnisse und Konkurrenzen im Europa des 19. Jahrhunderts“ wiederspiegelt.
Es gelingt Schwarz, deutlich zu machen, dass sich die Werke Offenbachs in ihrer Aktualität und Modernität, ihrer „Synthese von deutschem Tiefsinn und französischer Leichtigkeit, von Geist und Esprit“, den zu seiner Zeit scheinbar „eindeutig getrennten Räumen eines ‚jüdischen‘, ‚deutschen‘ oder ‚französischen‘ kulturellen Gedächtnisses“ entziehen.
Offenbach, so Schwarz, habe sich auf seine sehr eigene, spielerische und spöttische Art mit den Erinnerungsorten Europas auseinandergesetzt: mit den antiken Wurzeln und Mythen in „Orphée aux Enfers“ oder „La Belle Helene“, mit dem vermeintlich fins-teren Mittelalter in „Barbe-Bleue“ oder mit den Abgründen der Romantik in „Les Contes d’Hoffmann“. Aber auch die zu seiner Zeit aktuelle Sehnsucht nach Einheit und Friede wird in den Rheinnixen oder der bissige Spott auf militärisches Machtgehabe in „La Grande-Duchesse de Gérolstein“ ungeniert auf die Bühne gebracht.
Das sehr empfehlenswerte (mit Anmerkungen, Bibliographie und Werkverzeichnis versehene) Buch resümiert die Erkenntnisse der Offenbach-Forschung und zieht Fazit der Offenbach-Literatur von Anton Henseler („Jakob Offenbach“, Berlin 1930) bis zu Jean-Claude Yon („Jacques Offenbach“ Paris 2000), um nur zwei Marksteine der Offenbach-Forschung zu nennen. Es dürfte schon jetzt als das deutschsprachige Standardwerk in Sachen Offenbach zu bezeichnen sein, zumal Yons imposante Monographie nicht aus dem Französischen übersetzt ist und Henselers Pioniertat in Sachen Offenbach nur noch (wenn überhaupt) antiquarisch zu erhalten ist.
Peter Hawig stellt in seiner opulenten Publikation die „Offenbachiade“ (der Begriff stammt von Karl Kraus) – die fälschlicherweise so häufig in einen Topf mit der Operette geworfen wird – auf den Prüfstand und in den emanzipatorischen Kontext“ der Folgen der Französischen Revolution: „Vermenschlichung des Mythos, Entkleidung des Autoritären, Durchbrechen von Denkverboten, Infragestellung des Gegebenen.“ Konstitutiv für die Gattung sei der Begriff der Verkleidung und Maskierung. Bei der Stoffauswahl habe sich Offenbach vor allem aus der „Reservatenkammer der Bühnentradition“ bedient. Anhand typischer Werke zeigt Hawig es präzise auf: Mythologie (Orpheus, Helena), Märchen (Blaubart), Legende (Genoveva), Schauerdrama (Seufzerbrücke) und Räuberoper (Banditen).
Zeit und Raum
Wesentlich für die Offenbachiade seien „das Verspielte“ und „das Jonglieren mit Zeiten und Räumen, Masken und Artefakten.“ Offenbachs Librettisten (Scribe, Meilhac und Halévy) schrieben (unter wesentlicher Mitwirkung Offenbachs) Stücke, die geprägt sind „durch einen kritischen, nervösen Zeitgeist, den respektlosen, autoritätskritischen Umgangston, den mehrschichtigen Anspielungsreichtum, der dem des Musikers kongenial zuarbeitet.“
Die doppelzüngige Musik der Offenbachiade sei gekennzeichnet durch Parodie, Spiegelung von „Mustern und Bausteinen, Klischees, Stereotypen und Vorprägungen“, aber auch und insbesondere durch – und da zitiert Hawig Paul Bekkers Offenbachbuch von 1909 – die „Verbindung von gesungenem Wort mit der Tanzgebärde“. Offenbachs Orchestersatz, darauf weist Hawig hin, ist immer durchsichtig, gestützt auf Streicher und solistisch geführte Holzbläser: „Es ist die Satzkunst des 18. Jahrhundert und dessen graziöser Esprit, die [...] an Mozart und Cimarosa erinnern.“ Nicht ohne Grund nannte Rossini Offenbach den „Mozart der Champs-Elysées“.
Hawig stellt ein für allemal klar, dass insbesondere die Wiener Operette sich durch den „Rückzug ins Kleinkarierte und ‚Lebkuchenherzhafte‘“ wesentlich von der Offenbachaide unterscheidet. Anders als der „Operettenpapst“ Volker Klotz, der alles, was „gegen das ‚Verhockte‘ und Selbstzufriedene, das Gewalttätige, Bornierte und rein Geschäftsmäßige anrennt“ und damit jede gute Operette als Offenbachiade versteht, definiert Hawig die Offenbach’sche gesellschaftskritische, antiautoritäre, stets rebellische Gattung sehr viel genauer. Er hat ein konkurrenzloses Lehrbuch über die Offenbachiade vorgelegt, dessen zentrales Diktum sich Dirigenten und Regisseure hinter die Ohren schreiben sollten: „Offenbach ist Musikdramatiker“. Daher spricht sich der Autor entschieden gegen jede Art musikalischer Reduzierung (Verhunzung) aus, aber auch gegen textliche Bearbeitungen und Aktualisierungen, denn: „Der Anspielungs- und Parodiecharakter Offenbachs ist fast immer einleuchtend und erfahrbar, ohne dass der Zuschauer [...] wiederzuerkennende Einzelheiten verifizieren müsste.“ Ein sehr kluges und informatives Buch, aber es ist auch ein Liebesbekenntnis: „Denn Offenbach macht glücklich“.
Bibliografie
- Heiko Schon: Jacques Offenbach. Meister des Vergnügens, Regionalia Verlag, Daun 2018, 216 S., € 14,95, ISBN 978-3-95540-332-4
- Ralf-Olivier Schwarz: Jacques Offenbach. Ein europäisches Porträt, Böhlau Verlag, Köln 2018, 320 S., € 29,00, ISBN 978-3-412-51295-8
- Peter Hawig/Anatol Stefan Riemer: Musiktheater als Gesellschaftssatire. Die Offenbachiaden und ihr Kontext (Jacques-Offenbach-Studien, Bd. 6), Musikverlag Burkhard Muth, Fernwald 2018, 568 S., € 68,00, ISBN 978-3-929379-46-4