An Rückblicken hat es in den verflossenen Millenniumstagen nicht gefehlt. Reichlich wurden wir versorgt mit Bestandsaufnahmen aller Art. Die historische Erinnerung artikulierte sich kurzfristig als Aneinanderreihung von Schlussbilanzen mit der medialen Tendenz, das Jahrhundert in sendefähige Ereignisse zu zerlegen. Solches Procedere musste allerdings nicht bedeuten, dass unter der herausgeschlagenen Spreu zahlloser Kalenderblätter nun gar kein gutes Korn mehr zu entdecken blieb.
Sigfried Schibli (Hg.): Musikstadt Basel. Das Basler Musikleben im 20. Jahrhundert. Mit Beiträgen von Bernhard Batschelet, Theo Mäusli, Regula Rapp, Martin Schäfer, Sigfried Schibli und Klaus Schweizer. Buchverlag der Basler Zeitung, 1999, 254 Seiten, 100 sw-Abbildungen, 94 Mark An Rückblicken hat es in den verflossenen Millenniumstagen nicht gefehlt. Reichlich wurden wir versorgt mit Bestandsaufnahmen aller Art. Die historische Erinnerung artikulierte sich kurzfristig als Aneinanderreihung von Schlussbilanzen mit der medialen Tendenz, das Jahrhundert in sendefähige Ereignisse zu zerlegen. Solches Procedere musste allerdings nicht bedeuten, dass unter der herausgeschlagenen Spreu zahlloser Kalenderblätter nun gar kein gutes Korn mehr zu entdecken blieb. Unterstützt von einem kleinen Autorenteam zeichnet Sigfried Schibli, Musikwissenschaftler und Musikredakteur der Basler Zeitung, eine „Bestandsaufnahme“ des „Basler Musiklebens im 20. Jahrhundert“. Der Titel versteht sich als Verbeugung vor der publizistischen Tat eines Kollegen. Wilhelm Merian, auch er Musikwissenschaftler und Musikredakteur der Basler Zeitung, hatte 1920 seine Studie zum „Basler Musikleben im 19. Jahrhundert“ vorgelegt. Hieran anzuknüpfen und zugleich die bildungsbürgerliche Perspektive zu erweitern, ist Schib-lis Ziel.Im Unterschied zu Merian geht es ihm um die „gewachsene Vielfalt“ des städtischen Musiklebens. Dafür allerdings muss er, sehenden Auges, einen Preis zahlen. Ein eigentliches „Musikleben“ nämlich, eine als Lebensmitte gedachte Musikausübung und Musikerfahrung einer bürgerlichen Gesellschaft mit ihren besonderen Ritualen, mit ihrem eigentümlichen Stimmungskult um den Konzert- und Opernbesuch – diese Art hochgestimmtes Musikleben hat seine Mehrheitsfähigkeit auch in Basel verloren. Das Musikleben hat sich – wie Schibli konstatiert – in „Szenen zersplittert“. Die Mitte, der Kern ist verloren. Mit dieser Feststellung, in der ein gewisser Ton des Bedauerns zu spüren ist, beginnt das Buch. Aus dieser Feststellung zieht es seine Konsequenzen.
Was erwartet den Leser? Ist die versprochene Vielfalt etwa nur ein anderes Wort für Beliebigkeit? Dieses Abdriften zu vermeiden ist der ganze Ehrgeiz des Buches. Spannend ist zu sehen, wie der Herausgeber Sigfrid Schibli die Vielfalt einfordert und wie der Autor Schibli dennoch für eine Erkennbarkeit des „Basler Musiklebens im 20. Jahrhundert“ streitet, wie er Geschichte keineswegs kampflos den Geschichten opfern will.
Zehn von insgesamt 16 Kapiteln verantwortet Schibli selbst. Kritisch, umsichtig formulierend behandelt er die Basler Dirigentengeneration Hermann Suter, Felix Weingartner und Hans Münch, die Musikarchitekturen Stadt-Casino, Musiksaal, Musik- und Stadttheater, die Geschichte der Basler Chöre und Orgeln, den mit Yehudi Menuhin und Rudolf Serkin artistisch hochaufgeladenen Musikerkreis um den aus Nazideutschland emigrierten Geiger Adolf Busch und die Chronik der stets umstrittenen Basler Festspiele zwischen 1901, 1944 und 1998.
Sigfried Schibli zeichnet das Bild einer Volksmusik jenseits der Fasnacht – keine Basler Volksmusik, sondern eine Volksmusik in Basel –, beschäftigt sich mit bleibenden Fundamenten wie Musikausbildung, Schulmusik und gewerkschaftlicher Bildungsarbeit und würdigt den städtischen Stifter- und Sammlergeist, wie er sich dann beispielsweise in der Basler Instrumentensammlung niedergeschlagen hat.
Mit diesem, für das Kulturleben Basels konstitutiven Mäzenatentum, erreicht das Buch seinen Dreh- und Angelpunkt, vielleicht sogar seine geheime Mitte. Diese hört – zumindest für die Musikgeschichte der Stadt im 20. Jahrhundert – auf einen Namen: Paul Sacher, den 1999 verstorbenen Dirigenten, Sammler, Stifter und Großindustriellen. Keiner anderen Figur sind im zehnseitigen Personenregister so viele und so ausführliche Verweise gewidmet wie gerade dem steinreichen Mehrheitsaktionär von Hoffmann-La Roche. Alte Musik, Neue Musik, Musikausbildung, Musikforschung – alle diese „Szenen“ sind mit seinem Namen verbunden.
Das von Schibli mit Distanz, aber nicht ohne Sympathie geschriebene Porträt würdigt den Musikenthusiasten, Orchestergründer und Orchesterleiter Paul Sacher, den Sammler und Mäzen einer nach ihm benannten Stiftung mit Weltgeltung, lässt aber keineswegs unerwähnt den über Jahrzehnte allgegenwärtigen Strippenzieher, Wirtschaftsliberalisten, Postenverteiler und Postenverhinderer Paul Sacher. Lokalpatriotische Nabelschau bleibt in diesem Buch außen vor.
Auch Schiblis Koautoren helfen dabei nach Kräften mit. Klaus Schweizer behandelt kenntnisreich die Komponisten und Musikfeste der Neuen Musik, Regula Rapp die Sachergründung „Schola Cantorum Basilensis“, Theo Mäusli den Jazz, Martin Schäfer Rock und Pop in Basel und Bernhard Batschelet die Basler Fasnacht.
Auch in diesen Kapiteln stößt der Leser, wie etwa im Fall der „Schola Cantorum Basilensis“, immer wieder auf die Spuren Sachers, dieser, wie Autor Schibli schreibt, „Schlüsselfigur der musikalischen Moderne“.
Dabei steht der Leser am Ende seiner Lektüre vor einem scheinbar paradoxen Resultat. Einerseits wird deutlich, wie gerade Sacher kräftig mitgeholfen hat, das Musikleben Basels in „Szenen“ aufzufächern, andererseits verkörpert er dennoch wie kein Zweiter das Ideal des verloren gegangenen bürgerlichen Kunststrebens: die Zauber der Muse verbinden lassen, was die Mode streng geteilt.
Im Genre der regional gebundenen Kulturdarstellungen setzt das in verständlicher Prosa geschriebene, wissenschaftlich verantwortete Buch Maßstäbe.