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Stammt der Dreck von den Händen oder von der Geige?

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Visionär und Praktiker: Paul Hindemith und sein Wirken in der Türkei der 30er-Jahre
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Als Anfang der dreißiger Jahre Kemal Atatürk mit dem Neuaufbau des türkischen Musiklebens in der allgemeinen Neuorientierung seiner säkularen Politik an den westlichen Werten befasst war, bedeutete dies, dass die westliche klassische Musik in ihrer primären Ausprägung als polyphon durchkomponierte Formen auch in der Türkei zum Maßstab höchstrangiger musikalischer Betätigung erhoben werden sollte.

Die Einführung des Türkischen als Amtssprache anstatt des Arabischen im Osmanischen Reich erfuhr ihr musikalisches Pendant in der Marginalisierung der ohnehin im Rückzug befindlichen mikrotonalen Feinstruktur der einstimmigen orientalischen Modi und der massentauglichen Einbindung der einfacheren Tänze und Lieder der Turkvölker. Atatürk wünschte eine Nationalmusik, die die Charakteristika der türkischen Volksmusik mit den technischen Errungenschaften der Mehrstimmigkeit und Orchesterkultur des Westens in unverkennbar eigenständiger Weise verbinden sollte nach dem Vorbild anderer Nationen, die bereits namhafte Komponisten hervorgebracht hatten. Und so ist es ein geradezu symbolhafter Akt, dass sich fünf junge Komponisten der Generation Schostakowitsch zusammentaten zur Gruppe der „türkischen Fünf“: Cemal Resit Rey, Ahmed Adnan Saygun, Ulvi Cemal Erkin, Necil Kazim Akses und Hasan Ferit Alnar – in Anlehnung an das legendäre „Mächtige Häuflein“, das einst für eine gewisse Zeit die fünf nationalrussischen Komponisten Milij Balakirev, Alexander Borodin, Modest Mussorgskij, Nikolai Rimskij-Korsakov und César Cui gebildet hatten.

In dieser Situation des nationalen Aufbruchs suchte man 1934 in Deutschland nach einer geeigneten Person, um den Aufbau des Musiklebens generalstabsmäßig anzuleiten. In ihrem informativen Vorwort beschreibt Elif Damla Yavuz, wie es Cevat Dursunoglu gelang, eine Audienz bei Wilhelm Furtwängler zu bekommen, der ihm Paul Hindemith als die geeignete Persönlichkeit empfahl. Hindemith befand sich ohnehin in einer kaum erträglichen Situation, die nach Furtwänglers von den feuilletonistischen Marionetten des NS-Regimes in Grund und Boden verdammten Uraufführung seiner Sinfonie ‚Mathis der Maler’ und Furtwänglers anschließendem entschiedenen öffentlichen Eintreten für Hindemith dazu führte, dass Furtwängler seine Ämter niederlegte und Hindemith ein für allemal zu einer persona non grata im Dritten Reich wurde, die den persönlichen Hass des Führers selbst auf sich gezogen hatte. Letzteres ist im Vorwort nicht in allen Teilen zutreffend beschrieben, und überhaupt ist dieses Vorwort trotz aller Verdienste der editorische Schwachpunkt der Publikation – hier wäre eine abschließende Redaktion unbedingt anzuraten gewesen, denn angesichts der unidiomatischen Unverständlichkeit des Deutschen muss der Leser oft dreimal kombinieren und zwischen den Worten lesen, um den intendierten Sinn des Geschriebenen zu enträtseln (dass dieser Abschnitt des Buches obendrein recht viele Flüchtigkeitsfehler aufweist, ist dagegen unbedeutend; gleiches gilt übrigens für die Übersetzung des im Original abgelichteten Vertrags zwischen Hindemith und dem türkischen Botschafter in Berlin vom Februar 1935 im Anhang).

Diese Mängel fallen geringfügig ins Gewicht angesichts der überragenden Bedeutung dieser Publikation in solide eingebundenem A4-Paperback-Format. Es hat schon seinen ganz eigenen Reiz, dass Hindemiths drei Berichte aus den Jahren 1935-37 an die türkische Regierung faksimiliert wiedergegeben sind, der dritte Bericht gar als Kohledurchschlag des nicht auffindbaren Originals. Man blättert in diesem Buch, als hätte man eben auf einem Dachboden die historischen Notizen des Meisters entdeckt, und die gelegentlichen handschriftlichen Einfügungen bringen dem Leser die Denkungsart Hindemiths näher als jeder optisch befriedigendere Neudruck es vermocht hätte.

Doch ist dies kein Stoff zum Durchblättern, sondern für ein eingehendes Studium: Wie baue ich sozusagen aus dem Nichts ein nationales Musikleben nach europäischem – oder sagen wir besser gleich: deutschem – Vorbild auf? Wobei wir feststellen müssen, dass das Deutschland von 1935 mit dem von 2013 im Geiste nur noch wenig gemeinsam hat, denn damals wurde in den gebildeten Schichten noch intensiv Hausmusik betrieben, und bei allen anderen, abschreckenden Seiten des Gangs der Geschichte waren die Menschen noch weit von jener übersättigten Konsumentenhaltung entfernt, die unsere heutige passiv-voyeuristische Gesellschaft kennzeichnet. Es ist unwiderlegbar, dass Paul Hindemith nicht nur als hervorragender Visionär, Berater und Organisator in allen praktischen Dingen nach bestem Wissen und Gewissen plante und handelte, sondern auch, dass er in voller Überzeugung von der Überlegenheit seiner Kultur die deutsche Wertarbeit auf die türkischen Verhältnisse übertragen wollte. Er tat dies durchaus in der Absicht, die Türkei auf ihre eigenen Beine zu bringen, und er tat es in dem Bewusstsein, klassische Entwicklungshilfe zu leisten. Problematisch wird dies in seinen Vorschlägen, wie die Komponisten zu erziehen seien, und es ist kein Wunder, dass Ahmed Adnan Saygun, der bedeutendste junge Komponist der aufstrebenden Türkei, nicht nur von Hindemith namentlich nicht genannt und nur „im Vorübergehen“ als ungenügender Opernkomponist abgekanzelt wurde, sondern sich in der Folge als in Frankreich ausgebildeter Tonsetzer umso an Béla Bartók orientierte, den er ja auch auf dessen anatolischen Reisen begleitete. Hindemith tat durchaus das seine zur Spaltung der Lager in jene, die wie Erkin und Saygun in Frankreich studiert hatten und, gerade im Fall Saygun, den inneren Werten des Islam verbunden blieben und darin eine Fusion mit der neuen Zeit anstrebten, und jene, die ihre akademische Aufzucht aus deutschen Quellen bezogen. Auch Hindemiths Konzertprogramm-Vorschläge für das Orchester des Präsidenten und die Kammermusikkonzerte bestehen bis auf ein paar Ausnahmen fast ausschließlich aus Werken der deutschen bzw. Wiener Klassiker.

Hindemith war in Ankara mit äußersten Missständen, Schlampereien und Ränkespielen konfrontiert, und er versuchte, mit verständnisvoller, aber doch unvermeidlich harter Hand aufzuräumen, manchmal auch mit Odysseus-hafter List wie im Falle eines absolut uneinsichtigen Konzertmeisters, der die Umstrukturierungen mit allen Mitteln bekämpfte und vermeinte, den Machtkampf mit einem vorgeblichen Versetzungswunsch zu seinen Gunsten wenden zu können. Darauf empfahl Hindemith, ihn von Ankara nach Izmir zu schicken, um ihn dort mit der Aufgabe grundsätzlichen Neuaufbaus zu betrauen, was gewiss das Letzte war, was der Antragsteller beabsichtigt haben dürfte. Immer wieder kann man Hindemiths scharfe Beobachtungsgabe und die aufs Wesentliche konzentrierten, dabei stets weitschauenden Lösungsvorschläge, seinen feinen psychologischen Spürsinn und die nüchtern sachliche Erörterung auch der subjektivsten Umstände bewundern.

Jeder, der sich damit trägt, in einer noch nicht dafür reifen Umgebung eine neue musikalische Organisation nach höchsten Ansprüchen zu gründen, sollte die Berichte Hindemiths gründlich studieren. Zwar hat sich vieles verändert seit Mitte der dreißiger Jahre, zwar gilt es, tiefe kulturelle Gräben zu überbrücken, doch erstaunlich viele Hindernisse und Verhaltensweisen sind über alle zeitlichen, soziologischen und geographischen Entfernungen hinweg dieselben. Natürlich mag es exotisch anmuten, von manchen Umständen zu erfahren wie von Instrumenten, die im Freien herumstehend ruiniert und von Katzen genutzt werden, um daran ihr Geschäft zu verrichten, oder von Schülerscharen, die in der hoffnungslos überlasteten Musikschule auf den Gängen stundenlang im kollektiven Lärm mechanisch vor sich hin üben und ihr Gehör verderben. Und in Punkt 6 der Regeln für die Streicherschüler des Seminars heißt es 1936: „Es lässt sich oft nicht entscheiden, ob das Instrument von den ungewaschenen Händen so schmutzig ist oder ob die Hände von dem auf dem Instrument aufgehäuften Dreck gefärbt werden. Soll also erreicht werden, dass die Instrumente in Zukunft besser gepflegt werden, so ist zunächst auf Sauberkeit des Spielers zu achten. Jeder Schüler, der ungewaschen zur Stunde kommt, erhält keinen Unterricht.“

In seinem ersten Bericht von 1935, entworfen nach seiner ersten Türkei-Reise, macht Hindemith auf 56 Seiten Vorschläge und zieht eine erste Bilanz bezüglich des Orchesters und der Musikhochschule in Ankara, des öffentlichen Musiklebens, der Situation in Izmir und Istanbul, und der Gestaltung der türkischen Kunstmusik. Der zweite, sehr kritisch ausführliche praktische Bericht von 1936 enthält nach der zweiten Reise mit längerem Aufenthalt als Höhepunkt von Hindemiths Engagement auf 82 Seiten folgende Punkte: Etatposten für den Instrumentenankauf für Orchester und Schule; Einrichtung der Schulbibliothek; Militärmusik (Problem der Überalterung); Dienstanweisung für den Instrumentenmacher; Zustand des Orchesters; über die Konzerte in Ankara; künstlerische Leitung des Orchesters; Kammermusikkonzerte; Ausbildung von Militärmusikern; Chorliederbuch (Hindemith zufolge die Hauptaufgabe der Komponisten); an das Lehrerkollegium; die neue staatliche Musikschule (Entwurf einer Satzung fürs Konservatorium; Musiklehrerseminar; Diensteinteilung; Prüfungsordnung); Bericht über die Prüfungen; Musikerziehung in den Volkshäusern; Pläne für Istanbul; die von April 1935 bis Mai 1936 geleistete Arbeit. Der dritte Bericht von 1937 fällt mit 32 Seiten viel kürzer und quasi als Ergänzung zum Vorjahresskript aus, und gliedert sich in folgende Abschnitte: Heutige Lage des Orchesters; der Fall Halil (besagter Konzertmeister); Volksmusik und Schallplattenarchiv (eine Ergänzung der Vorschläge Bartóks); Chorgründung; Klaviersonate und Sonate für Flöte und Klavier von Necil Kasim Akses, Allgemeines über türkische Kompositionen; Veli Beys Militärorchester; Pläne für die Musikschule.

Auf Hindemiths Vorschläge hin war Ankara vorübergehend quasi zu einem Außenposten des deutschen Musiklebens geworden, deutsche Musiker begleiteten die meisten leitenden Positionen, was natürlich bei den älteren türkischen Musikern für heftige Widerstände und Intrigen sorgte, zugleich jedoch das musikalische Niveau in kürzester Zeit auf eine ganz andere Stufe erhob und den weitgehenden Beifall der jungen Generation fand.

Die Erstveröffentlichung von Hindemiths Vorschlägen für den Aufbau des türkischen Musiklebens ist sowohl äußerst wertvoll als zeitloses Dokument einer großen, vorbildlichen ideellen und organisatorischen Leistung, als auch ein essenzieller Beitrag zur Musik- und Kulturgeschichte der säkularisierten, nach Westen ausgerichteten Türkei, und damit heute für die deutschen Leser beinahe schon aktueller denn je. Für alle mit Musiklehre und -organisationsaufbau Befassten gilt ohnehin: dringende Lektüreempfehlung!

Paul Hindemith: Vorschläge für den Aufbau des türkischen Musiklebens
Die originalen Reporte 1935/1936/1937. Im Facsimile herausgegeben und mit einem Vorwort herausgegeben von Dr. Elif Damla Yavuz; Staccato Verlag, Düsseldorf 2013

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