Wenn Institutionen Geburtstage feiern, blicken sie gerne zurück: auf ihr bewegtes Leben, auf Erfolge ebenso wie auf schwere Zeiten, auf gute und weniger gute Phasen in all den langen Jahren. Der Deutsche Musikrat (kurz: DMR) feiert in diesen Tagen sein 70-jähriges Bestehen. Und auch er blickt zurück, schaut aber darüber hinaus nach vorne in die Zukunft. Deshalb finden sich beide Perspektiven in der Festschrift, die nun zum Jubiläum erschienen ist. Auf gut 150 Seiten und klar gegliedert in neun – mal mehr, mal weniger umfangreiche – Abschnitte entsteht ein Bild vom Deutschen Musikrat, der nicht ohne gesundes Selbstbewusstsein, aber völlig zutreffend sich als „der größte nationale Dachverband zur Stärkung, Bewahrung und Weiterentwicklung des Musiklebens in Deutschland“ bezeichnet. Immerhin sind es 15 Millionen Musikschaffende und ihre Interessen, die der DMR vertritt.
Strukturen schaffen, die krisenfest sind
Positionen und Visionen
Nur ein kleiner Teil dieser 15 Millionen Menschen dürfte näher vertraut sein mit der Geschichte des DMR, seinen Positionen und Visionen. Das könnte sich mit dieser Festschrift ändern, gibt sie doch einen interessanten Einblick in das, was den Verantwortlichen des DMR wichtig war und ist. Vor allem aber lässt sie ganz unterschiedliche Akteure der breit aufgestellten Musikszene zu Wort kommen – zum Teil in Form von lebendig geführten Interviews, dann wieder als Autor*innen-Texte. Das ist abwechslungsreich und gut zu lesen, etwa wenn Rock-Legende Peter Maffay mit Musikschuldirektorin Friedrun Vollmer über musikalische Früherziehung und Chancengleichheit bei der Bildung nachdenkt.
Organ namens Ohr
Karl Karst, langjähriger Programmchef des Kulturradios WDR 3, schreibt über den „Projektkreis Schule des Hörens e. V.“, dessen Ziel es ist, Kenntnisse über das menschliche Organ namens Ohr zu vermitteln, dadurch vertiefte Hörkompetenz zu entwickeln und damit – weiter gefasst – „Sinneskompetenz“! Diese, so Karst, sei wichtig für die Rezeption von Kunst, Medien und Musik, aber auch das soziale Leben.
Auch Christian Höppner, Generalsekretär des DMR und als solcher in der Öffentlichkeit immer wieder präsent, unterstreicht mit seinem „Weckruf“ (einem Kommentar zur aktuellen Situation der musikalischen Bildungslandschaft) die Unabdingbarkeit kultureller Bildung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, für das Funktionieren von Demokratie. Das ist nichts Neues – aber man kann es nicht oft genug wiederholen. Und Höppners Kritik an der (Bildungs-)Politik und ihren Versäumnissen dürfte leider auch in den nächsten Jahren, wenn nicht Jahrzehnten ihre Berechtigung haben: „Kernaufgaben werden nicht mehr erfüllt.“
Die Rolle von Corona
Wie könnte es anders sein: Natürlich spielt auch Corona eine Rolle – und die Auswirkungen der Pandemie auf die Kultur. Vor allem aber auch auf das (Über-)Leben der Musikschaffenden. Komponist Matthias Hornschuh und Susanne Rode-Breymann, Präsidentin der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover tauschen sich darüber aus, was sich verändern muss, um Strukturen zu schaffen, die krisenfest sind. Das umfasst Fragen der gerechten Vergütung, Lizenzmodalitäten und mehr. „Kulturelle Arbeit muss endlich als Arbeit verstanden und entsprechend behandelt werden. (…) Soziale Absicherung ist nicht möglich ohne tragfähige Bezahlung.“ (Matthias Hornschuh)
Schon längst kommt den sozialen Medien im Musikbetrieb eine große Bedeutung zu. Diesem Thema widmet sich Anke Steinbeck und fragt, wie sich vor allem junge Musiker*innen auf eine veränderte Berufswelt vorbereiten und mit ihr umgehen können und sollen, welche Rolle „Likes, Shares und Klicks“ bei der Karriereplanung und dem Erzielen möglichst großer Reichweiten spielen. Eine spannende Herausforderung, auch für die deutschen Musikhochschulen.
Amateurmusizieren
Eine fundamentale Aufgabe des DMR hat seit seinem Bestehen ganz hohe Priorität: das Engagement bei der Förderung des Amateurmusizierens. Dies unterstreichen Dietmar Stahlschmidt, Musiker mit „Multi-Funktionalität“ vor allem in der nordrhein-westfälischen Szene, und Ingo Gestring, seit mehr als 30 Jahren aktiv in der Leitung von Posaunenchören. Beide sprechen über ihre langjährigen Erfahrungen in Musikschulen und Vereinen und deren Bedeutung für ein soziales Miteinander. Ein weiteres wichtiges Arbeitsfeld, das der DMR „beackert“, steht in Verbindung mit dem, was man „Globalisierung“ und „Vernetzung“ nennt. Ingo Dorfmüller gibt in seinem Beitrag etliche Beispiele von Kooperationen und gemeinsamen Projekten mit Partnern aus dem Ausland, die sehr zielführend waren und bis heute auf Kontinuität angelegt sind. So etwa der EWCM, ehemals „Polnisch-Deutsche Ensemblewerkstatt für Neue Musik“, die seit 20 Jahren arbeitet. Aushängeschild für internationale Beziehungen und regen Austausch sind natürlich die Ensembles des DMR: das Bundesjugendorchester, das Bundesjazzorchester und der noch junge Bundesjugendchor. Auch hierüber finden sich in der Festschrift interessante, oft „aus dem Leben gegriffene“ Details.
Der Jubiläumsband profitiert von zweierlei: der Verschiedenheit seiner jeweiligen Beiträge, die zu lesen keinen Moment Langeweile aufkommen lässt. Und die Bandbreite jener, die hier zu Wort kommen, die Jahre, wenn nicht Jahrzehnte in ihrem Metier zuhause sind und deshalb kompetent und sachhaltig Stellung beziehen.
- „Hören – fühlen – leben“. Festschrift 70 Jahre Deutscher Musikrat, herausgegeben vom Deutschen Musikrat Berlin. 152 Seiten; 2023
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