Die Voraussetzungen sind denkbar unterschiedlich: Er, der Eine, ist Dirigent, schwedisch-amerikanischer Herkunft mit Wohnsitz in der Schweiz. Er, der Andere, ist Pianist, Ungar von Haus aus und inzwischen Wahl-Italiener.
Herbert Blomstedt und András Schiff sind zwei neue Porträt-Bücher gewidmet, die methodisch einander ähneln, da es sich – ganz oder zu Teilen – um Gesprächsbände handelt; bei genauerem Hinschauen ergeben sich darüber hinaus charakterliche und musikalische Wahlverwandtschaften. Blomstedt, der in diesem Jahr seinen 90. Geburtstag feierte, hat seine Bekenntnisse der Journalistin Julia Spinola anvertraut, mit Schiff hat sich Martin Meyer unterhalten, der ehemalige NZZ-Feuilleton-Chef, mit dem Schiff bereits einen gemeinsamen Band über Beethovens Klaviersonaten veröffentlicht hat.
Die Gesprächsform ermöglicht beiden Musikern, auch private Einblicke zu geben: Bei Blomstedt wird mehrfach seine tiefe Gläubigkeit thematisiert, bei Schiff überraschen die offenen Aussagen über seinen Halbbruder, der in Auschwitz ermordet wurde, über die eigene, schwierige Geburt, über den frühen Tod des Vaters, über seine jüdische Herkunft und das Leben im Kommunismus des Nachkriegs-Ungarn. Beide, Blomstedt wie Schiff, geben sich als Mensch bescheiden, demütig und dankbar, beide bekunden eine ähnlich respektvolle Herangehensweise an ihre Arbeit als Interpreten großer Werke, und beide sind sich einig in ihrer Abneigung gegen alles Vordergründige und so manche Mode unserer Zeit.
Das Blomstedt-Buch liest sich stellenweise wie eine Reisereportage, denn der Leser folgt dem Dirigenten sowohl in seine schwedische Heimat als auch in die Schweiz und an zentrale Orte seiner Arbeit, darunter Dresden und Leipzig, wo Blomstedt 1998 zum Gewandhauskapellmeister berufen wurde. Gerade über seine Anfänge beim Gewandhausorchester spricht der damalige Nachfolger Kurt Masurs sehr offen, über den Drill, den die Musiker erfahren haben, und über den dicken, sämigen Klang des Orchesters, den Blomstedt mit mehr Mozart und Haydn aufzuhellen und zu differenzieren versuchte, bevor er sich an eine Gesamteinspielung aller Bruckner-Sinfonien wagte. Leider spielt ausgerechnet Bruckner, der wie Bach zu einem seiner Lebensbegleiter wurde, in diesem Buch eine eher untergeordnete Rolle, obwohl sich Blomstedt in anderen Interviews immer wieder sehr dezidiert und anschaulich zu dieser Musik und ihrer Bedeutung geäußert hat. Dass der Leser dennoch mit Neugierde Kapitel um Kapitel folgt, hängt mit der Substanz von Blomstedts Aussagen zusammen, auch zu den allgemeineren Aspekten seines Berufs, ganz gleich, ob er über Schlagtechnik und Aura eines Dirigenten berichtet oder über die Impulse, die Orchestermusikern weiterhelfen können. Das Buch enthält etliche Anekdoten, die bei Blomstedt jedoch nie voyeuristisch wirken. Er erinnert sich an die Professionalität Karajans bei der Produktion des „Meistersinger“-Vorspiels ebenso wie an Lenny Bernsteins Alkohol-Exzesse. Trotz spürbarer Missbilligung schwingt in Blomstedts Aussagen immer auch ein großer Respekt mit.
Das András-Schiff-Buch besteht aus zwei Teilen. Auf die rund hundert Seiten mit Gesprächen folgen Essays, die meist auf Booklet-Texten von CD-Produktionen, Programmheft- oder Zeitschriften-Publikationen beruhen. Inhaltlich sind sie weit gefächert, sie behandeln ein spätes Beethoven-Quartett ebenso wie Schuberts Es-Dur-Klaviertrio, es gibt Ausführungen zu Béla Bartók am Klavier und Erinnerungen an Rudolf Serkin, aber auch skeptische Gedanken über Sinn und Zweck von Musikwettbewerben. Schon im ersten Text, „Ungarn – ungern“, liest man, wie kritisch Schiff bereits seit Jahren mit seinem Herkunftsland umgeht: „Das Toleranzniveau der Bevölkerung liegt extrem tief. Rassismus […], Antisemitismus, Fremdenhass […] und reaktionärer Nationalismus – beängstigende Symptome.“ Dieser Text zeigt, dass Schiff sich immer als ein politisch Denkender – und mit selbst auferlegten Auftritts-Boykotts – auch als ein politisch handelnder Künstler verstanden hat.
Ob in seinen eigenen Essays oder in den Gesprächen: Schiff bleibt nie an der Oberfläche, immer geht es um tiefere Einblicke, etwa wenn es um die Bedeutung einzelner Komponisten wie Robert Schumann geht oder um Detail-Beobachtungen wie den Triller am Beginn von Schuberts letzter Klaviersonate. In den biografischen Abschnitten erzählt Schiff mit teilweise entwaffnender Ehrlichkeit, etwa wie er sich früh gegen den Widerstand einiger Lehrer behaupten musste oder wie er später in Amerika aus Geldmangel im Schlafsack und von McDonald’s-Futter gelebt hat.
Insgesamt zählen beide Bücher zu jenen Veröffentlichungen, die nicht der autobiografischen Eitelkeit frönen, sondern dem Leser viel Substantielles an die Hand geben – über Komponisten und ihre Werke, über das Leben als Musiker von heute und nicht zuletzt über die Menschen Blomstedt und Schiff.
- Herbert Blomstedt: Mission Musik. Gespräche mit Julia Spinola, Bärenreiter/Henschel, Kassel/Leipzig 2017, 192 S., Abb., € 24,95, ISBN 978-3-7618-2417-7
- András Schiff: Musik kommt aus der Stille. Gespräche mit Martin Meyer. Essays, Bärenreiter/Henschel, Kassel/Leipzig 2017, 248 S., Abb., € 24,95, ISBN 978-3-7618-2287-6