Es kommt sicher nicht allzu häufig vor, dass der Rückblick auf ein kompositorisches Lebenswerk einer Entdeckungsreise in ein kaum bekanntes ästhetisches Terrain gleichkommt. Walter Zimmermann muss jedoch zu den bekanntesten Unbekannten der zeitgenössischen Kompositionsszene gezählt werden. Das mag daran liegen, dass seine Musik in einer konsequenten und möglicherweise auch karrierefeindlichen Unabhängigkeit von den wechselnden Strömungen und Moden der „Neuen Musik“ entstand. Abhilfe schafft nun „Ursache und Vorwitz“ und macht, das sei vorweggenommen, große Lust, dieses weitestgehend unterrezipierte Werk (neu) zu entdecken.
Ein Werk, das in der Ära des Konzeptuellen an Aktualität eher gewonnen als verloren hat, denn der Rekurs auf geistige Sphären, die zunächst einmal außerhalb des Musikalischen liegen, ist so zentral für die Entstehung und Gestalt von Zimmermanns Stücken, dass man mit Fug und Recht von einem genuin musikalischen Konzeptualismus sprechen könnte.
Es hätte kaum einen kundigeren Initiator und Dialogpartner geben können für diesen Gesprächsband als Richard Toop, Pianist, Musikologe (mit zentralen Publikationen zu Stockhausen und Ferneyhough) und Weggefährte Zimmermanns aus gemeinsamen Kölner Tagen. Den Kern dieser Publikation bilden ertragreiche Gespräche, die Toop in den Jahren 2003 und 2004 mit dem Komponisten im Zuge einer geplanten Monografie führte und aufzeichnete. Die Bänder wurden schließlich 2012 von Walter-Wolfgang Sparrer transkribiert, der das sprunghafte Material in eine latent biografisch angelegte Chronologie aus zehn Kapiteln fügte, in denen nun einer der eigenständigsten deutschen Komponisten eloquente und kritische Selbstauskunft gibt. Deren manchmal überraschende Sprünge, Rückgriffe und Redundanzen sind nicht immer von der Hand zu weisen, aber Teil der Lebendigkeit einer dynamischen Gesprächssituation, die das Gedruckte nicht retrospektiv ausmerzt. Bedingt durch den Tod Richard Toops im Jahr 2017 führen zwei von Herausgeber Sparrer verantwortete Gespräche das Geschehen in die unmittelbare Gegenwart: Dort finden der „Liederzyklus auf Gedichte von Michail Lermontow und Ossip Mandelstam“ (2015/16), der Zimmermanns konstruktiven Zugriff auf eine von ihm ungeliebte „Gattung“ veranschaulicht, sowie dessen ehemalige Lehrtätigkeit an der Berliner UdK abschließend nochmal besondere Berücksichtigung. Der etwas sperrige Titel des Bandes mag zunächst irritieren, geht jedoch zurück auf Zimmermanns gleichnamiges Stück für Horn, Violine, Violoncello, Klavier, Schlagzeug und Tonband (1993/94) und verweist auf des Komponisten unstillbaren Erkenntnisdurst, aber auch latent ironisch auf die Diskrepanz von Eifer und Vergeblichkeit angesichts der ungreifbaren Totalität des Reflektierbaren.
Sprechendes Panorama
Insgesamt entfaltet „Ursache und Vorwitz“ ein sprechendes Panorama insbesondere der Neue Musik-Szene der 1970er- und 1980er-Jahre, deren Teil Zimmermann war und zugleich auch nicht. Dessen Querständigkeit im Betrieb, die weder mit den dogmatischen Prinzipien und Eitelkeiten der klassischen Avantgarde noch mit der aufkommenden Neo-Expressivität in Einklang zu bringen war, manifestierte sich in vielen ästhetisch non-konformen Richtungen: in einem frühen Interesse an der Musikethnologie als Gegenposition zu „hypertrophen Ego-Konzepten“, in den Aktivitäten des Kölner „Beginner Studios“ als einer Art Gegenavantgarde mit offeneren Veranstaltungsmodi und nicht zuletzt im Konzept einer „nichtzentrierten Tonalität“.
Im Zentrum der Erörterungen stehen jedoch die komplexen Konzeptionen und Hintergründe der Kompositionen oder um mit Toop und einem seiner Vortragstitel zu sprechen: die „Schatten der Ideen“. Zimmermanns Auffassung vom Komponieren als ein Akt des Konstruktiven und Reflexiven, der inhaltliche und strukturelle Phänomene aus anderen Disziplinen substantiell amalgamiert, zieht sich wie ein roter Faden durch dieses Buch in immer neuen Bezugspunkten und den daraus resultierenden Schaffens- bzw. Transformationsprozessen, die oft detaillierte Erläuterung finden (nicht nur was die kontrovers rezipierte „Lokale Musik“ betrifft). Auch soziale Fragestellungen blieben dabei, obwohl Zimmermanns „Weltbezug“ nie ein dezidiert politischer war, nicht ausgespart, wenn in „Akkordarbeit“ für Klavier und Orchester (1971) Liszts Paganini-Paraphrasen demontiert werden und Virtuosentum zum Abbild einer kapitalistischen Gesellschaft wird.
„Meine Art zu komponieren ist paradox in dem Sinn, dass ich ein System benutze, um nicht in Systemen gefangen zu sein. Dies ist bisher meine einzige Lösung für das Problem, hinter das Ego des Komponisten zu gelangen, das den Hörer ansonsten durch das Ausleben emotionaler Gehalte in seinen Kompositionen dominiert. Ich versuche einen Weg zu entwerfen, den ich mit dem Hörer teilen kann, den ich also in einer ähnlichen Weise verfolgen kann wie eine Person, die im Publikum zuhört.“ Dass diese uneitle Lösung aber auch ein lebenslanger Zwiespalt war und ist, daraus macht Zimmermann an vielen Stellen dieses Buches keinen Hehl: „Ich suchte immer irgendwie etwas Objektives, oder umgekehrt formuliert: Ich hatte Angst, irgendwas ex nihilo zu komponieren. Vielleicht, weil ich keinen spontanen Zugang zu mir habe oder aber, weil ich wusste, dass die Idee des Selbstausdrucks, der Selbstexpression, eine Täuschung ist.“ Es wundert angesichts dieser Prämissen nicht, dass die amerikanische Avantgarde Zimmermann zeitlebens näher stand als die europäische. Die Bedeutung von John Cage (vor allem dem frühen) und Morton Feldman für Zimmermanns Werk kommt in eigenen Kapiteln ausführlich zur Sprache.
Das vermeintliche Handicap war jedoch Zimmermanns ureigene Stärke: Vielleicht hat sich bei keinem Komponisten nach 1945 eine solch enzyklopädische Belesenheit und leidenschaftliche Neugier auf unbekannte Denkgebäude und Ideenwelten so unmittelbar ins musikalische Werk niedergeschlagen wie bei Walter Zimmermann: „Wenn ich erstmal von etwas affiziert werde, gehe ich total in eine solche mir fremde Welt ein – und fange wie verblendet an, mich da hineinzudenken. (...) Ich verfolgte immer meine eigenen Geschichten, die mit der Neuen Musik oft überhaupt nichts zu tun hatten. Und die suchte ich vor allem in Bibliotheken – endlos.“ Auch diese Rezipierlust schildert dieses Buch höchst anschaulich in der Erörterung von Zimmermanns unauflistbaren Stoffen und Inspirationen zwischen Meister Eckhart und Shunryu Suzuki, Novalis und Barthes, Marx, Lévi-Strauss und Deleuze und ihren Folgen für das Komponierte.
Substanzielle Ergänzungen
Substanziell ergänzt werden die reich bebilderten und durch ganzseitige Partiturauszüge illustrierten Gespräche durch zwei Essays der Dialogpartner, die wesentliche Elemente von Zimmermanns kompositorischer Ästhetik in den Blick nehmen: Zimmermanns Vortrag „Transkription als Komposition“, 1996 am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Köln gehalten, erläutert anhand ausgewählter Werke („Ataraxia“, „Fragmente der Liebe“, „Clinamen“) umfassend seine Prinzipien der „strukturellen Analogie“ und deren geradezu alchemistische Übertragungsverfahren. Toops Essay „Shadows of Ideas“ beleuchtet pointiert Grundfragen von Zimmermanns Kompositorik und verweist auf eine grundlegende Ambivalenz, die Zimmermanns Werk vielleicht seine ganz besonderen Konturen verliehen hat: den Widerspruch zwischen der Idee einer „entsubjektivierten“ Musik und der Ausbildung einer bemerkenswerten Personalsprache, die in einer gewissen Formelhaftigkeit der Verfahren expressive Klischees und Stereotypen zu meiden sucht.
Es ist der redaktionellen Akribie Walter-Wolfgang Sparrers (Herausgeber des verdienstvollen Lexikons „Komponisten der Gegenwart“) zu verdanken, dass dieser instruktive Gesprächs-Band von einem Anhangsapparat abgerundet wird, den vergleichbare Publikationen oft bewusst umgehen. Das fängt bei einem Werkverzeichnis an, das nicht nur vollständig ist, sondern in der genauen Einteilung nach Werkgruppen und -zyklen Zimmermanns ästhetische Entwicklung in nuce abbildet. Und das hört bei einem Personenregister auf, das ästhetische Bezüge und biographische Beziehungen auffindbar macht und alle erwähnten Kompositionen (auch anderer Komponisten!) enthält. Ausführlich gibt Sparrer in zahlreichen Anmerkungen Auskunft über die von Zimmermann erwähnten Inspirationsquellen, was im Angesicht der elementaren Bedeutung der intellektuellen Stimulanzien aus Philosophie, Soziologie, Psychologie, Literatur und Kunst für Zimmermanns Schaffen weit mehr als einer bildungsbürgerlichen Fußnote gleichkommt, sondern die geistige Welt des Komponisten inhaltsreich veranschaulicht. Eine Welt, die Walter Zimmermann immer wieder (soweit als möglich) auf Null setzt, um im Zustand eines „Beginner’s Mind“ neue Stoffe, Zusammenhänge und musikalische Sprachformen zu finden...
- Ursache und Vorwitz. Walter Zimmermann im Gespräch mit Richard Toop, hrsg. v. Walter-Wolfgang Sparrer, Wolke Verlag, Hofheim 2019, 312 S., € 29,00, ISBN 978-3-95593-095-0