Martin Greve: Die Musik der imaginären Türkei. Musik und Musikleben im Kontext der Migration aus der Türkei in Deutschland (M & P Schriftenreihe für Wissenschaft und Forschung), Metzler-Verlag, Stuttgart/Weimar 2003, X, 554 S., Abb., € 49,95, ISBN 3-476-45314-6
Migranten sehen sich immer wieder mit der Forderung konfrontiert, sie sollten sich ihrer neuen Umgebung anpassen. In dem Sinne, dass sie einige grundlegende Regeln des Zusammenlebens respektieren sollten, ist dies nichts weiter als eine Selbstverständlichkeit. Wenn jedoch gemeint ist, sie sollten jegliche Bindung an das Land ihrer Herkunft aufgeben, so wäre dies schlichtweg ein Ding der Unmöglichkeit. Dies belegt auf eindrucksvolle Weise Martin Greves Untersuchung über die Musik in Deutschland lebender Türken: Noch im Leben der Kinder und Enkelkinder der Einwanderer spielt die Sehnsucht nach dem Ursprungsland eine zentrale Rolle. Musik dient ihnen dabei mehr als alles andere als Projektionsfläche. Freilich hat sich mit dem Bild der imaginären Türkei, die Greve im Titel anspricht, auch die Musik mit zunehmender Distanz im Lauf der Zeit gewandelt. Frühe Gastarbeiterlieder der 60er-Jahre nahmen scharfzüngig die Verhältnisse in der unwirtlichen neuen Heimat aufs Korn. In den 70er-Jahren wichen sie den standardisierten Liebesliedern der Arabesk-Mode.
Um die Mitte der 90er-Jahre feierte schließlich mit türkischem HipHop aus Berlin erstmals eine eigenständige Musikrichtung der Migranten zweiter und dritter Generation auch im Mutterland Erfolge. Die Regel bleibt jedoch eine einseitige Fixierung auf das glorifizierte Herkunftsland: anatolische Landsmannschaften beziehen sich mit ihrer Musik ebenso auf ihre Ursprünge wie etwa Kurden oder Aleviten.
Doch Martin Greves Interesse reicht weit über populäre Formen von Volksmusik bis Türk-Pop hinaus. Er beschäftigt sich gleichermaßen kompetent mit der „klassischen“ türkischen Musik des osmanischen Hofs, den „tanzenden Derwischen“ des Mevlevi-Ordens, Jazz und türkischen Musikern in der internationalen Weltmusik-Szene. Und er bietet, bevor er auf wenig beachtete türkische Musiker im deutschen Konzertbetrieb zu sprechen kommt, auf 14 Seiten den wohl besten in deutscher Sprache erhältlichen Überblick über klassische Musik europäischer Prägung in der Türkei, seit Giuseppe Donizetti, der ältere Bruder des Opernkomponisten, 1828 an den osmanischen Hof berufen wurde und seit Paul Hindemith 1935-1938 wesentlich zur Gründung des staatlichen Konservatoriums und der nationalen Musik- und Schauspielakademie in Ankara beitrug.
Besonders spannend wird es immer dann, wenn sich die sehr unterschiedlichen musikalischen Welten der Türkei und Europas berühren – zuweilen auf verschlungenen Wegen: So gelangten manche klassisch ausgebildeten türkischen Musiker schon deshalb nach Deutschland, weil sie von Eduard Zuckmayer, dem Bruder des Schriftstellers, welcher von 1936 bis 1970 die Musikakademie in Ankara leitete, dorthin empfohlen wurden. Weitere deutsche Musiker waren in der Nazizeit in der türkischen Hauptstadt tätig: so Ernst Praetorius als Leiter des Symphonieorchesters oder Carl Ebert als Dirigent der staatlichen Oper. In jener Zeit fanden – in Übersetzung – deutsche Lieder von „Lili Marleen“ bis „Morgen kommt der Weihnachtsmann“ Eingang in türkische Schul-Musikbücher.
Türkische Musiker in Deutschland greifen häufig Bestandteile der europäischen Tradition auf: Sei es, dass sie ihre Melodien – zu orchestraler Begleitung oder in Rockbands mit Saz und Elektrogitarre – mit einfachen Harmonien unterlegen. Oder aber, dass sie wie Taner Akyol oder Nevzat Akpinar aus Berlin die Baglama für anspruchsvollste Klangexperimente nach Art der Neuen Musik verwenden. Es fehlt auch nicht an Interaktionen zwischen deutschen und türkischen Musikern. Allein schon bei den in der türkischen Musik üblichen asymmetrischen Rhythmen können Europäer oftmals nicht mehr mit. Wenn es um Vierteltöne und die feinen Tonstufungen des Makam-Systems geht, müssen sie vollends passen.
Eine herablassende Haltung gegenüber türkischer Musik, wie sie Greve mit einem Karl-May-Zitat belegt, ist also völlig fehl am Platz.
Wenn diese als orientalisch ausgegrenzt, in Bauchtanzphantasien erotisiert wird oder als erwünschter Farbtupfer auf Stadtteilfesten erscheint, so ist dies nur die Kehrseite eines eklatanten Mangels an ernsthafter Auseinandersetzung, der sich auch darin zeigt, dass eine interkulturelle Musikpädagogik, die auf die doppelte Erfahrungswelt deutsch-türkischer Kinder Rücksicht nimmt, noch in den ersten Anfängen steckt.
Anders als in Rotterdam, wo mittlerweile ein eigener Studiengang „türkische Musik“ existiert, fehlen dafür bei uns allerdings auch in der Musiklehrer-Ausbildung noch die Voraussetzungen.