Auf der unermüdlichen Suche nach dem „amtlichen“ Track sich durch den Raum der HipHop-Formelwelt zu schrauben, die Begrenzungslinien der – gar nicht so unermesslichen – Weiten zu erkennen und sich im Sog der Erkenntnis diesen Formelschatz dienstbar zu machen, dies ist in etwa die Botschaft von Kramarz’ Veröffentlichung. Nicht ausschließlich analysebezogen, aber auch nicht explizit Arbeitsbuch könnte man sie vielleicht am ehesten als Handreichung für den Einblick in den musikalischen Unterbau des HipHop bezeichnen.
Der Autor orientiert sich hierbei am Konzept seiner 2006 ebenfalls bei Voggenreiter veröffentlichten „PopFormeln“: Der Gedanke, aus der Analyse repräsentativer Musikstücke eines Stils quasi Substrate zu gewinnen, diese Grundbefindlichkeiten zu einem „Regelwerk“ zu verdichten und daraus ein stilbezogenes musikhandwerkliches Niveau zu definieren, dies alles ist nicht neu, auch nicht in Bezug auf die damit verbundenen ästhetischen Probleme: Seit Jahrzehnten, ja Jahrhunderten quälen sich Legionen von Theoriestudenten damit ab, in musikalischen Modellen Vermutetes zu finden, Erkenntnis zu gewinnen und zu reproduzieren.
Ob Marx’sches Sonatenmodell, barocke Fuge oder Parker-Blues, sie alle beginnen in den Werken regelmäßig zu zerfließen, entziehen sich dem Halt Suchenden und weisen auf das hin, was jegliche Schablone, respektive Formel erst adelt: die individuelle Entscheidung. Kramarz weiß dies natürlich und betont immer wieder die Notwendigkeit der Maskierung der – vorwiegend harmonischen – Modelle durch melodisches Material, Sounddesign et cetera … So wie aber die Forderung des Autors lediglich nach Maskierung von Modellen nicht weit genug greift, so wenig erwiesen ist seine Behauptung, der „einfache“ Hörer wolle immer und immer wieder die gleichen Muster hören. Dass Letzterer dies zu tun gezwungen wird, sagt noch wenig über sein tatsächliches bewusstes und unbewusstes Wollen aus. Auch Popsongs aus dem Mainstream-Bereich beweisen immer wieder: Erst durch den strukturellen Eingriff in ein Modell (ohne es zu zerstören) oder durch Konfrontation/Überlagerung verschiedener Modelle oder Stilmittel entstehen die echten „Earcatcher“, denen ein langes Leben garantiert ist.
Strawinskys Bild vom Aufrichten der Mauern, sie dann aber wieder fast bis zur Unkenntlichkeit einzureißen, um den Energiefluss in Gang zu setzen, beschreibt noch immer unvergleichlich den kreativen Prozess. Ob es sich dabei um eine großdimensionierte Sinfonie oder einen HipHop-Track handelt, ist dabei relativ unerheblich. Die obigen ästhetischen Überlegungen ergeben sich aus dem Ziel von Kramarz’ Buch: Nicht ausschließlich das Schaffen eines theoretischen Fundaments sondern der abgeschlossene kreative Prozess ist anvisiert. Seine Zielgruppe sollen laut Einleitung sowohl Einsteiger als auch Profis sein, die auf der Basis des Buchs zu eigenständigen musikalischen Ergebnissen gelangen können. Ein deutlicher Widerspruch zur Aussage der meisten im Interview-Teil vorgestellten HipHop-Komponisten/Produzenten: Sie kokettieren geradezu mit ihrer musiktheoretischen und instrumentalen Unbedarftheit, wohl wissend, dass ein guter Track folglich ihrer Intuition und Phantasie zugeschrieben werden muss. Daraus ergeben sich Probleme für den Einsteiger: Hat er sich musiktheoretische Grundbegriffe, harmonische Progressionen (Formeln) und dergleichen mehr – erarbeitet, ist er auch in deren Abhängigkeit geraten, gerade weil ihm der Weitblick und musikalische Erfahrungshorizont des Profis meist fehlt.
Kramarz’ Unentschiedenheit im Hinblick auf die Zielgruppen drückt sich auch in einer widersprüchlichen Schwerpunktsetzung in Sachen Musikterminologie aus: Wird auf dem Einband das Umgehen von Notenschrift – der Hinweis „Ohne Noten“ könnte allerdings auch anderes, weit schrecklicheres vermuten lassen – als Vorzug ausgewiesen, bleiben dem theoretisierenden Neuling theoretische Aspekte in Fülle keineswegs erspart. Zahlreiche didaktische Fragen bleiben hier offen: Ist die explizit behandelte Intervall-Feinbestimmumg notwendig? Ist sie mit Hilfe des wieder nur für Privilegierte hilfreichen Tastenmodells tatsächlich leichter zu verstehen? Kann man Diatonik ohne Chromatik erfassen? Müssen Funktionsbezeichnungen ins Spiel gebracht werden, wenn ihre – auf Quintbeziehungen beruhende – Balancefunktion innerhalb einer Tonart für Neulinge nicht hinreichend transparent gemacht wird? Und dergleichen mehr …
Lässt man die zehn aus den „Popformeln“ importierten Seiten außer Acht, kristallisiert sich eine Grundfrage heraus: Sind es tatsächlich ein paar harmonische Modelle, Riffs oder Melodieskelette, welche das Wesen eines profilierten HipHop-Songs ausmachen? Ist der Weg, der bei den Popsongs noch bedingt gangbar schien, hier nicht die klassische Sackgasse? Sind nicht Qualitäten wie „das Richtige auswählen“ und über die Routine hinausgehender, kreativer Umgang mit Software die Schüsselqualifikationen?
Diejenigen, welche – unbeschwert durch musikalischen Theoriehintergrund – hip durch Arkadien hoppen, sind durch kleinräumige Theorieerschließung wahrscheinlich überfordert oder gar nicht auf sie angewiesen. Sie nutzen ihre offenen Ohren für alles Verwertbare – dies können auch harmonische Formeln sein – und schlendern in bequemen Hosen am Regal der Musikgeschichte entlang. Was dann im Einkaufswagen landet und wie es letztlich serviert wird, entscheidet über die Qualität … und ob vielleicht manchmal sogar Kunst daraus wird.