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Ungestellte Fragen, neue Antworten

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Der Dirigent Herbert von Karajan im Lichte einer Geschichte der musikalischen Interpretation
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Was hat Herbert von Karajan „als Dirigent“ geleistet? Eine Frage wie diese im Zentrum eines Karajan-Buches muss verwundern. War denn nach dem jüngsten Publikations-Tsunami zum 100. Geburtstag des Maestros noch irgendetwas offengeblieben? Durchaus!, meinen die Herausgeber Jürg Stenzl und Lars Laubhold.

In seltsamen Kontrast zur „zentralen Rolle“ Karajans „innerhalb der wohl tiefgreifendsten Revolution der Musikkultur des 20. Jahrhunderts“ stehe nämlich die „geringe Kenntnis seines Musik- und Werkverständnisses“.

Ein Desiderat, dem abzuhelfen man im Frühjahr 2008 zu einem Salzburger Karajan-Symposium geladen hatte. Dessen Ergebnisse liegen jetzt in Buchform vor. Kurios, dass ausgerechnet ein Gedenkjahr-Nachzügler Anspruch erheben darf, zu den wichtigsten Beiträgen in Sachen Karajan überhaupt gerechnet zu werden. Weshalb dies so ist, hat vor allem damit zu tun, dass „Karajan“ hier als Bestandteil einer weitgehend offenen Frage verhandelt wird. Folgt man Jürg Stenzl, dem spiritus rector des Unternehmens, so sind es eigentlich zwei Fragen, genauer gesagt, Forschungsprojekte: Ungeschrieben, noch zu schreiben, die „Geschichte der Aufnahmetechnik und der Klangvorstellungen, die diese geleitet haben und weiterhin leiten“ sowie, ganz grundsätzlich, die „Geschichte der musikalischen Interpretation im 20. Jahrhundert“.

In dieser offenhorizontalen Wissenschaftsperspektive ist „Karajan“ offensichtlich ein zentrales, aber eben nicht das einzig relevante Kapitel. Indem sich die Autoren des Sammelbandes daran halten, umschiffen sie wie von selbst die Fallgrube der Karajan-Philologie und Karajan-Liturgie, in die schon so manches abgestürzt ist. Worum es vielmehr geht, macht Stenzl klar, wenn er sich in einer eigenen, akribisch angelegten Untersuchung mit Karajans Deutung der „Szene am Bach“ aus Beethovens Pastoral-Symphonie beschäftigt. Hierbei unterscheidet Stenzl drei „Modi der musikalischen Interpretation“. Ein „espressivo“, das zurückgeht auf eine Linie Wagner, Bülow, Mengelberg, Furtwängler, abgelöst durch eine von Strawinsky ausgelöste „neusachliche“ Haltung, der auch Karajan im Zeichen seiner Toscanini-„Offenbarung“ verpflichtet war sowie einen „historischen“ Modus, der im Wesentlichen erst im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts wirksam wird. Unter den 27 Einspielungen der 6. Sinfonie, die Stenzl zugrundelegt, ist es Karajans 1967 aufgenommener Beethoven-Zyklus, der die geforderte Metronomvorschrift des 2. Satzes von 50 für die punktierten Viertel exakt einhält. Doch nicht dieser Umstand, vielmehr liege das Karajan-Spezifische vielmehr in der Relativität von Temponahme und Zeitgestaltung, in der Dominanz der „Orchestermelodie“ und der Rücknahme des interpretierenden Dirigenten, wodurch sich paradoxerweise die Aufnahme vor das Werk schiebt. „Die Hörer lernen, kennen und memorieren die immer wieder gehörte ,eine‘ Interpretation, nicht das Werk.“

Ähnlich tief schürfen andere Autoren des Bandes, indem sie wie Stenzl (in einer zweiten Studie zu „Karajan und Debussy“) ihre Analysen und Einschätzungen an Hörbeispielen verdeutlichen, nachprüfbar an zwei CDs, die diesem zum Mitdenken aufrufenden Buch beigegeben sind. Da ist Jens Malte Fischer, der in seiner Studie zu Karajans Wagner-Interpretation einen Dirigenten entdeckt, dessen Ausdrucks-intensität, beleuchtet an der Einleitung zum 3. Akt des Tristan, „kaum zu übertreffen“ sei. Jürgen Kesting untersucht die Frage des Verhältnisses zwischen der Gesangspraxis, den Gesangsgepflogenheiten im Theater und im Aufnahmestudio und dechiffriert anhand der Karajan-Legge-Aufnahmen, am Verschwinden so mancher Interpreten-Manieren wie das Ausspinnen von Ziellnoten, dem „Filare“ an Phrasenenden, das besondere Händchen Karajans für die Ästhetik der Schallplatte. Aufschlussreich ferner die Beiträge von Peter Gülke über „Karajans Beethoven“, von Detlef Giese und Barbara Zuber über Karajans Strauss- und von Volker Scherlies über Karajans Strawinsky-Interpretationen. Gewohnt kompetent auch Reinhard Kapp zum sperrigen Thema „Karajan und Wiener Schule“.

Als Schlussbeitrag, ebenso erhellend wie herzensfrisch, wird ein Gespräch mit dem früheren Karajan-Assistenten Michael Gielen wiedergegeben. Aufschlussreich ist darin die in die Anekdote gefasste Beobachtung zu Karajans Verständnis der Moderne: Gielen, erzählt Gielen, ist beauftragt mit den Wiener Symphonikern Lese- und Durchspielproben zu Hindemiths Mathis-Sinfonie zu machen. Dabei entdeckt er, dass Karajan beim langen Horn-Ostinato im 3. Satz rund zwei dutzend Striche in seine Partitur eingetragen hat, „so dass er vielleicht 26 Mal zwei Takte dirigierte“.

Karajan, schlussfolgert Gielen, konnte sich gar nicht mehr leisten, nicht auswendig zu dirigieren. Allerdings habe er die modernen Werke rein formell „in Perioden“ und nicht danach dirigiert, „was da inhaltlich drin steht“, was wiederum nicht der Sinn des Auswendigdirigierens sei. Mit anderen Worten: Der Dirigent Herbert von Karajan, bezogen aufs Repertoire der Moderne, demnach das Opfer seiner selbst, seines eigenen Corporate Design?

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