Der Ausstellung „Entartete Kunst“ 1937 in München ließ das NS-Regime ein Jahr später die Ausstellung „Entartete Musik“ in Düsseldorf folgen. Gezeigt wurde alles, was den Machthabern als „undeutsch“, „krank“ und „dekadent“ galt. Am Pranger standen selbstverständlich Schönberg, Hindemith, Alban Berg, Kurt Weill und Franz Schreker, aber auch viele andere wie etwa Erich Korngold, Jean Gilbert, Victor Hollaender oder Oscar Straus. Zu dieser Zeit waren die meisten von ihnen längst aus Deutschland geflohen oder hatten Berufsverbot; der Exodus hunderter schon etablierter oder hoffnungsvoller Talente war ein Aderlass, der bis heute nachwirkt.
Zu den wichtigsten Autoren, die über die Verfemung von Musikern im Dritten Reich geschrieben haben, gehören Josef Wulf, Michael Kater und Fred Prieberg. Zu ihnen gesellt sich nun der 1956 geborene französische Komponist und Dirigent Amaury du Closel. Vor einigen Jahren hat er das Forum „Vox Etouffées“ gegründet, das sich der Wiederentdeckung und Aufführung NS-verfolgter Komponisten widmet. Sein jetzt erschienenes Buch, das für längere Zeit ein Standardwerk zu dieser Thematik sein dürfte, ist Frucht dieser intensiven Bemühungen.
Der Autor hat seine Arbeit in drei Abschnitte unterteilt. Zu Beginn schildert er, was an Polemik und Aggressivität schon lange vor 1933 vorhanden war. Da war die Ablehnung der musikalischen Moderne schlechthin, wofür Worte wie atonale Musik, Unmusik, Katzenmusik oder Bedrohung standen, die Ablehnung von Jazz („Negermusik“), die Polemik gegen einen schwammig definierten „Kulturbolschewismus“, was für den Nationalsozialismus in dem einzigen, antisemitisch grundierten Kriterium von Rasse mündete und zu so hasserfüllten Konstrukten wie „negerisches Judenblut“ führte.
1933 war letztlich alles schon vorgedacht, es musste dann nur noch „praktisch“ umgesetzt werden. Du Closel schildert ausführlich – hier hat er vor allem seine französischen Leser im Blick – die „Säuberungen“ des deutschen Musiklebens, die durch die Nürnberger Gesetze, durch Einrichtung der Reichsmusikkammer (deren Anordnungen geltendes Reichsrecht waren), durch theoretische Untermauerung (etwa das „Lexikon der Juden in der Musik“) und durch Verhaftung, Flucht und Vertreibung, nach 1940 dann auch durch Deportation und Mord mit größter Gründlichkeit erfolgte.
Der dritte Teil behandelt in mehreren Kapiteln zahlreiche Einzelschicksale sowie die Situation in den wichtigsten Exilländern Frankreich, Großbritannien und Amerika. Mehr oder weniger geglückten Lebensläufen etwa von Korngold, dessen Filmmusiken Hollywood geradezu goutierte, von Ernst Toch, Ernst Krenek oder Hans Gál stehen viele andere gegenüber, die nur schwer in der neuen Umgebung zurechtkamen und oft genug unter dürftigsten Verhältnisse lebten. Zur „inneren Emigration“ zählt der Autor unter anderem Walter Braunfels, Anton Webern, Karl Amadeus Hartmann, Max Butting und Boris Blacher.
Das bedrückendste Kapitel ist das über Musik in deutschen Konzentrationslagern, in denen nach 1941 besonders viele Komponisten aus der Tschechoslowakei inhaftiert waren und von denen mehrere den Tod fanden. Die tschechische Musik der Moderne ist bis heute zu einem Großteil in Komponisten wie Victor Ullmann, Hans Krása, Pavel Haas, Rudolf Karel oder Erwin Schulhoff präsent. Am Schluss des Buches steht ein ebenso überraschendes wie gleichfalls bedrückendes Paradoxon: Die Neue Musik nach 1950, wie sie sich in Darmstadt und Donau-eschingen zusammenfand, wollte so radikal neu sein, dass selbst NS-verfolgte Komponisten unter ein Verdikt fielen und gleichsam ein zweites Mal geächtet wurden. Seitdem erfolgte immerhin einige Wiedergutmachung. Ullmann, Schulhoff, Braunfels, auch Pavel Haas oder Erich Itor Kahn haben nach und nach wieder Eingang in unsere Konzertsäle gefunden. Aber die meisten vom NS-Regime als „entartet“ geschmähten Musiker sind nach wie vor kaum bekannt. Der Autor beklagt, die braunen Machthaber hätten ihr Ziel erreicht, „nämlich die Auslöschung einer ganzen Generation von Komponisten und ihrer Werke aus dem kollektiven Gedächtnis“. Es liegt an uns heute, ob das das letzte Wort ist!
Amaury du Closel: Erstickte Stimmen. „Entartete Musik“ im Dritten Reich, Böhlau Verlag Wien/Köln/Weimar 2010, 506 S., e 39,00, ISBN 978-3-205-78292-6