Hans Ulrich Engelmann: Vergangenheitsgegenwart. Erinnerungen eines Komponisten, Darmstädter Schriften 80, Justus von Liebig Verlag 2001, zirka € 10,–
Hans Ulrich Engelmann: Vergangenheitsgegenwart. Erinnerungen eines Komponisten, Darmstädter Schriften 80, Justus von Liebig Verlag 2001, zirka € 10,– Hans-Ulrich Engelmann, im vergangenen Jahr 80 Jahre alt geworden, schrieb eine höchst interessante und amüsante Lebens- und Zeitgeschichte unter dem Titel „Vergangenheitsgegenwart – Erinnerungen und Gedanken eines Komponisten“. Das lesenswerte Buch erschien als achtzigste Veröffentlichung in der vom Kulturamt des Magistrats der Stadt Darmstadt herausgegebenen, renommierten Reihe „Darmstädter Schriften“ im Darmstädter Justus von Liebig Verlag.Engelmann entstammt einem christlich-jüdischen Elternhaus und wurde 1921 in Darmstadt geboren. Er schildert lebendig seine Kindheit und das Heranwachsen in der Weimarer Republik und im Dritten Reich mit der Belastung einer „nichtarischen Abstammung“ (Nazi-Jargon). Er verliert seinen jüdischen Vater, der als dekorierter Frontoffizier den Ersten Weltkrieg mitmachte, 1945 im KZ Theresienstadt. Ein junger Freund wird durch die Gestapo während des Zweiten Weltkriegs hingerichtet. Wir erfahren von Engelmanns dringendem Jugendwunsch, einen künstlerischen Beruf zu ergreifen. Musik, die bildende Kunst, Theater und die Literatur üben eine große Faszination auf ihn aus. Er spielt gut Klavier, liebt zeitlebens Jazz und beginnt zu komponieren.
Das große Angebot der Weltkultur in der Nachkriegszeit wurde von den überlebenden jungen Menschen geradezu aufgesogen. Engelmann studiert bei Wolfgang Fortner und schreibt über den Aufbruch der Avantgarde und die Geschichte der epochemachenden Internationalen Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt/Kranichstein ab 1947, die er von Beginn an aktiv als Student und später als Dozent miterlebt.
Wir erleben bei der Lektüre die Begegnungen mit vielen bedeutenden Persönlichkeiten der Kulturszene, unter anderem Adorno, Horkheimer, Krenek, Leibowitz, Maderna, Nono, Dallapiccola, Scherchen, Rosbaud, Strobel, Steinecke, Sabais und seine enge Zusammenarbeit als musikalischer Berater und Dramaturg bei dem legendären Theaterintendanten und Regisseur Gustav Rudolf Sellner am Hessischen Landestheater (1954–1961).
Es gibt Spannendes zu erfahren über Aufenthalte, Ehrungen, Preise unter anderem in Island, Rompreise der Villa Massimo (1960, 1967, 1983) – nicht zu vergessen die Ausschnitte aus dem Tagebuch 1960 seiner Lebens- und Kunstgefährtin Roma, der dieses lebendige Buch auch gewidmet ist.
Im Mittelpunkt der Autobiografie steht natürlich der Komponist Engelmann bis in die heutige Zeit, seine erfolgreiche Lehrtätigkeit an der Musikhochschule in Frankfurt/Main und bei internationalen Kursen eingeschlossen. Mehr als hundert Kompositionen sind zwischen 1945 und der heutigen Zeit entstanden, darunter Bühnen- und Orchesterwerke, Kammerensemble und Kammermusik, Oratorien, Klavier- und Jazzkompositionen, die in den internationalen Musikzentren immer wieder erklangen.
Der Komponist hat auch in seinen Werken aktuelle Fragen der Zeit miteinbezogen und sich engagiert mit Musik und Wort eingemischt.
Das Buch enthält drei ausführliche Dialoge (1971, 1981, 1998), in denen Engelmann seine Sicht des Komponierens darlegt und seine geistige und künstlerische Präsenz zur Geltung kommt. Seine Werke „Der Fall van Damm“ und „Ophelia 69“, von ihm als Musik-Aktions-Theater bezeichnet und mit Jazzformen versehen, sollen hier besonders genannt werden. Die Uraufführung von „Ophelia 69“ (Hannover, Tage der Neuen Musik 1969, Regie: der Komponist, Dirigent: Klaus Bernbacher) gehört zu meinen nachhaltigen Erlebnissen als Dirigent.
Engelmann schildert sein außerordentlich vielseitiges künstlerisches Leben im Zeitgeschehen des 20. Jahrhunderts mit Humor und Ironie, treffender Beobachtungsgabe und Erinnerungsvermögen, anekdotisch und unterhaltend, dazu interessante Fotos. Köstlich die Beantwortung der Frage, warum man komponiert. Cage: „The best music is no music at all!“ Engelmann aphoristisch: „Erstens aus neurotischem Zwang, zweitens aus kategorischem Imperativ!“