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Vom Hören emanzipierter Klang

Untertitel
Michael Heinemann nimmt in seiner Beethoven-Studie einen originellen Perspektivwechsel vor
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Das Bild von einem tauben Beethoven, der nur mithilfe eines Hörrohres fähig war, Sprache und Musik zu vernehmen, ist wohlbekannt. Doch wie stand es wirklich um Beethovens Gehör und seine Möglichkeiten, Musik über dieses wahrzunehmen? Und wie taub war er infolge dessen für Musik? Wie wirkte sich dies auf die insbesondere im Spätwerk zunehmend nuancierten Kompositionen aus? Diesen und weiteren Fragen will Michael Heinemann in seinem Buch über Beethovens Ohr aus einem originellen Blickwinkel auf den Grund gehen.

Die einzelnen Kapitel liefern mit wörterbuchartig gestalteten Titeln wie „Ver·ste·hen“ oder „Fas·sen“, die entbehrlicherweise mit teils nicht ganz passenden Duden-Definitionen unterschrieben sind, verschiedene Ansätze am ergiebigen Beispiel Beethovens, Musik zu erfahren, gar auf andere Weise zu ‚hören‘. Anhand einiger Berichte von Beethovens Zeitgenossen wird klar gemacht, wie schlimm es um seine Taubheit wirklich stand, wie er damit umzugehen schien und wie dies auch von außen wahrgenommen wurde. In mehreren Deutungsansätzen arbeitet der Autor heraus, dass Beethovens Wahrnehmung von Musik nicht (ausschließlich) an sein Gehör gebunden war.

Diese Ansatzmöglichkeiten bedienen sich zu ihrer näheren Veranschaulichung spezifischer Werke aus Beethovens Œuvre und werden auch anhand zahlreicher Notenbeispiele illustriert. Die ausführlichen Erläuterungen dieser schießen zwar teilweise über die Argumentation zur andersartigen Musikerfahrung hinaus, zeigen aber Beethovens Brillanz. Neben eingehenden Analysen von Werken wie der Waldstein- oder der Hammerklaviersonate bekommt der Leser auch einen gut nachvollziehbaren Einblick in Beethovens Kompositionsprozesse, die sowohl in seinen Skizzenbüchern als auch in den vielen Bearbeitungsstufen der Autographen erkennbar sind. Ebenfalls betrachtet wird die Entwicklung allgemeiner klanglicher Aspekte, die einerseits die voranschreitende Optimierung der Instrumente mit sich brachten, andererseits auch durch die Klangvorstellungen und Kenntnisse der Menschen bedingt waren. Ob es für einen Ertaubten von Vorteil wäre, weniger beeinflusst von Bekanntem neue Klangwelten zu imaginieren, ist dem Autor genauso ein Denkanstoß wie die mögliche Obsoleszenz des Gehörs gegenüber der unmittelbaren Wahrnehmung von Resonanz.

Heinemann zeigt unter anderem am konkreten Beispiel des „Heiligen Dankgesang“ aus dem Streichquartett a-Moll op. 132, inwiefern Beethoven die Traditionen und Konventionen seiner Zeit überschritten hat, worin die gattungsprägenden Erneuerungen begründet lagen und wie sie sich auch auf nachfolgende Musik auswirken sollten. Die Fantasie für Klavier op. 77 dient ihm überdies als Paradebeispiel für die vielfältigen Arten, das Klavierspiel in Bereichen haptisch zu erfassen, in denen damals zum Teil noch die notationstechnischen Mittel fehlten. Weiter ausgeführt wird dies anhand der Bagatelle für Klavier op. 119 Nr. 7, an der festgemacht wird: solche Musik zielt nicht nur auf das Ohr, sondern auf den Körper als gesamte erfahrende Entität ab.

Der Autor sinniert in einem weiteren Kapitel auch über den Aufgabenbereich des Komponisten, einen Raum für die Verarbeitung und  -Mitteilung von Gehörtem, Erfahrenem in der Musik zu erschaffen. Unter anderem wird die „Pastorale“ hierfür als bezeichnendes Beispiel angeführt.

Unter dem Titel „Taub“ findet sich als letztes Kapitel des Buches eine Chronologie von Beethovens Hörverlust. Dokumentiert durch Briefe, Notizen und Biographien Beethovens und ihm nahestehender Personen wird der Verlauf der Ertaubung ab 1796 nachvollziehbar dargestellt. Die später in kürzeren zeitlichen Abständen zu findenden Einträge aus den Konversationsheften illustrieren die Zuspitzung von Beethovens Situation und seine Auseinandersetzung mit potentiellen Hilfsmitteln sehr nachdrücklich.

Fazit: Das Buch eröffnet aus origineller Perspektive neue Dimensionen der Musik als eine auf viele Weisen erfahrbare Kunst. Sprachlich und musikwissenschaftlich wird auf hohem Niveau auch Grundsätzliches über die Wahrnehmung von Klängen reflektiert. Über das Buch hinweg werden immer wieder Impulse geliefert, darüber nachzudenken, wie der Gehörverlust Beethovens Œuvre wirklich beeinflusst haben könnte. Weil dies sehr nah an den exemplarisch herangezogenen Kompositionen passiert, ist das Buch wohl eher für theoretisch interessierte Leser geeignet, die mit den analyselastigen Ausführungen eines Musikwissenschaftlers etwas anfangen können. Gut untermauert wird gezeigt, dass Beethoven durch den Verlust seines Gehörs wohl kaum den Bezug zur klanglichen Vorstellung seiner Werke verlor, sondern infolgedessen umso differenziertere Spieltechniken und Anschlagsarten durchdachte. Er ‚hörte‘ auf vielerlei Ebenen – der Klang wurde vom Hören emanzipiert.

  • Michael Heinemann: Beethovens Ohr. Die Emanzipation des Klangs vom Hören. edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2020, 156 S., € 19,80, ISBN 978-3-96707-452-9

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