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Jochen Köhler: „Spielen Sie Stockhausen wie Beethoven“. Der Pianist Aloys Kontarsky, Wolke Verlag, Hofheim 2023

Jochen Köhler: „Spielen Sie Stockhausen wie Beethoven“. Der Pianist Aloys Kontarsky, Wolke Verlag, Hofheim 2023, 424 S., Abb., Notenbsp., € 42,00, ISBN 978-3-95593-143-8

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Vom Morgen im Gestern

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Mehr als eine Interpreten-Biografie: Jochen Köhler über den Pianisten Aloys Kontarsky
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Jochen Köhler: „Spielen Sie Stockhausen wie Beethoven“. Der Pianist -Aloys Kontarsky, Wolke Verlag, Hofheim 2023, 424 S., Abb., Notenbsp., € 42,00, ISBN 978-3-95593-143-8

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„Wer nichts als Chemie versteht, versteht auch die nicht recht.“ Der Satz des großen Aphoristikers Lichtenberg umschreibt unnachsichtig das Grundproblem moderner Gesellschaften: die Arbeitsteilung. Schließlich ist im nicht nur industriellen Produktions-Prozess professionelles Expertentum gefragt. Fehlt dieses, droht kontraproduktiver Dilettantismus, überwiegt es, droht die „Fachidiotie“. Selbst im Bereich der ach so hehren Musik stößt man auf dieses Dilemma: Ohne technische Perfektion und hohes interpretatorisches Know-how ist im normierten, auf Leistungs- wie Konkurrenzdruck ausgerichteten Musikbetrieb nicht allzu viel auszurichten. Dieser Zwang zu Bestleistungen, wie relativ auch immer, verhindert aber gleichzeitig die Neugier auf die immense Vielfalt in der Musik. Die Musikhochschulen sind von dem Dilemma nicht ausgenommen, dürfen diesen Experten-Ausbildungs-Auftrag keineswegs verweigern, sollten ihn aber auch nicht absolut setzen. Ohnehin hat die immer striktere Trennung von Komposition und Reproduktion – Folge des Historismus bis hin zum langlebigen Wiener Credo „Nur ein toter Künstler ist ein guter Künstler“ – hauptsächlich dem musealen Star-Kult Vorschub geleistet. 

Aber es gab Ausnahmen: Interpreten, die in ihrer Weise Musikgeschichte mitgeschrieben haben, wie den Dirigenten Michael Gielen, den Cellisten Siegfried Palm, den Oboisten Heinz Holliger und das Klavier-Duo Alfons und Aloys Kontarsky. Letztere vor allem haben in gleich mehrfacher Hinsicht Pioniertaten vollbracht. War doch gerade das Klavier für nicht wenige Komponisten Experimentierbühne, ja Labor für kompositorisch-pianistische Neuerungen: Beethoven, Chopin, Schumann, Liszt, Skrjabin, Debussy, Bartók – und die ersten Clus­ter finden sich bei Ives, Henry Cowell und Leo Ornstein. Schönberg war zwar kein Pianist, hat aber nach Schumann in op. 11 den ersten Flageolett-Akkord verlangt, abgesehen von der Zwölfton-Technik ab op. 23. Und Messiaens Etüde „Mode des valeurs et d’intensités“ öffnete das Tor zum Serialismus des frühen Boulez und Stockhausen.

Die Kontarsky-Brüder vitalisierten eminent das allzulang der Hausmusik zugeschrieben gewesene vierhändig-zweiklavierige Spiel. Als Duo wurden sie zum Inbegriff avancierter Tas­tenkunst, Spezialisten für vertrackteste Werke von Boulez, Zimmermann, Stockhausen, Ligeti, Rihm, Serocki – viele ihnen gewidmet. Eine ganze Literatur ist ihnen so zu verdanken, ganz abgesehen von ihrem mirakulösen Repertoire von Mozart bis Strawinsky und ihrem Einsatz für Max Reger. Später hat Aloys­ sich gerade im Zusammenhang mit Stockhausen radikalisiert, nicht mehr nur an Tasten exzelliert, sondern auch Hammond-Orgel gespielt, bei „Mikrophonie“ das Tamtam mit Kontakt-Mikrophon abgetastet, also selbst als Schlagzeuger Grenzen überwunden: der Interpret als Ko-Komponist. Eine Großtat bleibt die erste Platten-Aufnahme der Klavierstücke I–XI 1966. 

Doch der epochal kreative Interpret war auch ein herausragender Pädagoge nicht nur als Kölner Professor, sondern auch als Dozent der Darmstädter Ferienkurse. Zudem war er eine literarisch-rhetorische Kapazität, der druckreif so sachkompetent wie witzig formulieren konnte. Eine epochal farbige Figur war er allemal. 

Ein Schlaganfall setzte 1983 seiner Pianistik ein Ende. 2017 ist er gestorben. 

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Jochen Köhler: „Spielen Sie Stockhausen wie Beethoven“. Der Pianist Aloys Kontarsky, Wolke Verlag, Hofheim 2023

Jochen Köhler: „Spielen Sie Stockhausen wie Beethoven“. Der Pianist Aloys Kontarsky, Wolke Verlag, Hofheim 2023, 424 S., Abb., Notenbsp., € 42,00, ISBN 978-3-95593-143-8

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Der Pianist Jochen Köhler, weiterwirkender Kontarsky-Schüler, hat im Wolke-Verlag zwei wahrhaft polare Pianisten porträtiert: Arturo Benedetti Michelangeli und Aloys Kontarsky. Den konträren Gestalten entspricht die jeweilige Fokussierung: auf die genuine Klavieristik und die grenzüberschreitende ästhetische Komplexität der Moderne und Avantgarde. Dafür steht schon der Titel: „Spielen Sie Stockhausen wie Beethoven“. 

Die starre Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart, lebendiger Produktion und ehrfürchtiger Reproduktion sollte ebenso aufgehoben werden wie die zwischen strengster Professionalität und hingebungsvoller Kulinarik. Aloys Kontarsky machte sich nichts aus feierlichen Ritualen, über die er spottete, umso mehr aber aus exquisiten Tafelfreuden. Pianistisch-pädagogischer Vaterfiguren wie Eduard Erdmann oder Eduard Steuermann gedachte er mit unsentimentaler Dankbarkeit. Und im Text „Scheinfinale und Variationen“ verstickt er sich liebevoll in die bizarre Labyrinthik von Kagels Umwegen über das Klavier. Ebenso geht es ihm bei seinem Engagement für Max Reger mehr um dessen spezifisch wuchernde Mikro-Monumentalität als um die Legende vom „zweiten Bach“.

Der Band, instruktiv bebildert und dokumentiert, ist mehr als eine Interpreten-Biographie: eine imponierende Gesamt-Perspektive auf eine unerhört produktive Epoche nicht nur neuer Musik.

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