Hauptrubrik
Banner Full-Size

Vom Singen zum Instrument

Untertitel
Ergebnisse einer Ringvorlesung zum Thema Kindheit und Musikkultur
Publikationsdatum
Body

Der vorliegende Band ist das Ergebnis einer Ringvorlesung an der Hochschule für Musik Würzburg und bietet eine außerordentliche inhaltliche und disziplinäre Vielfalt in Form „resümierender Aufarbeitungen von Forschungsergebnissen“ (S. 7). Die qualitativ und vom Anspruch her sehr unterschiedlichen Beiträge werden in drei Teile gruppiert: 1. Kindheitsforschung, 2. Kindheit als Thema der Musikwissenschaft und 3. Kindheit als musikpädagogische Herausforderung. Je nach Interessenlage und Auswahl kann so ein breiter Leserkreis von dem Werk profitieren.

Kindheit als Konstrukt

Eröffnet wird der Reigen von Volker Fröhlichs Aufsatz über „Kinder als Entwicklungstatsache oder Kindheit als Konstrukt. Wege und Irrwege erziehungswissenschaftlicher Kinder- und Kindheitsforschung“. Die etwas sperrige Formulierung nimmt schnell klare Konturen an, wenn der Autor die verschiedenen Kindheitskonzepte seit Rousseau angenehm kurz und verständlich nachzeichnet und dabei auch deutlich macht, dass er zwar der These vom Konstruktionscharakter der Kindheit, ihrer Abhängigkeit von sozialen Phänomenen und aktuellen Erkenntnisinteressen zustimmt, diese Position aber gerne ergänzt sehen möchte durch die anthropologische Konstante, die das Entwicklungsgeschehen als offenen Prozess wieder mehr in den Blick nimmt. Besonders ausführlich schildert er die sozialhistorische Wende, wie sie von Philippe Ariès und seiner „Geschichte der Kindheit“ ausgelöst wurde. Zwar kommt die Musik in diesem Aufsatz gar nicht vor, doch für sich genommen und als Grundlage für die anderen Studien gibt der Beitrag einen gelungenen Überblick.
Mit einem soziologischen Schwerpunkt folgt Maria Fölling-Albers mit „Veränderte Kindheit und Kindheitsforschung. Herausforderungen für die Grundschule“ einer ähnlichen Linie. Auch bei ihr geht es nicht um Musik, sondern um die von ihr an anderer Stelle ausführlicher dargelegte Entscholarisierung von Schule und im Gegenzug die zunehmende Scholarisierung von Freizeit, die von den Lehrkräften andere Kompetenzen und eine Relativierung ihres oft negativen Bildes der heutigen Kindheit erforderten.

Eine tatsächlich gelungene „Einführung in das Musikalische Lernen von Kindern aus musikpsychologischer Perspektive“ liefert Andreas C. Lehmann. Er appelliert an Musikpädagogen, sich mehr mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen über Lern- und Reifungsprozesse zu beschäftigen. Die wissenschaftliche Forschung könne Eltern und Pädagogen wertvolle Orientierung geben.

Reflexion von Kindheit

Die beiden musikwissenschaftlichen Beiträge von Christoph Henzel und Ariane Jeßulat geben Antwort auf die Frage nach der Reflexion von Kindheit in der Musik selbst. Ab 1800 spiegelt sich die Entdeckung der Kindheit im Repertoire, in der Art des Komponierens und im Denken über Musik. Henzel zeigt beispielsweise, dass Schumanns Kinderszenen „ein komplexes, mehrdimensional zu entschlüsselndes Kunstwerk (sind), das der romantischen Kindheitsverklärung verpflichtet ist“ (S. 61). Jeßulat bietet weniger Überblick, sondern widmet sich sehr detailliert und nicht immer ganz stringent der Analyse einzelner Werke, um „sehr komprimiert Aspekte eines möglichen literarisch-musikalischen Kindbildes in Schumanns op. 15“ (S. 76) zu zeigen.

Den Namen Adorno im Zusammenhang mit Kindheit und Musik zu finden überrascht. Dessen ist sich der Autor Wolfgang Lessing durchaus bewusst und plädiert deshalb dafür, „dass
Adorno in musikpädagogischer Hinsicht auch heute noch ernst genommen zu werden verdient“ (S. 85). Letztlich untermauert er aber nur Gemeinplätze der Pädagogik mit Adorno’schen Vorstellungen aus verschiedenen Schriften und scheut sich auch nicht, ihn lange und oft zu zitieren. Nun spricht er selbst von Adornos „unvergleichlicher Sprachgewalt“ (S. 89) und genau die ist dem Verständnis des Aufsatzes in Kombination mit den oft weit hergeholten Anschauungen nicht gerade förderlich.

Thomas Münch widmet sich den „Medien als Instanz der Musiksozialisation im Kindesalter“, liefert interessante Daten und Funktionen der Mediennutzung und diskutiert die drei wichtigsten Forschungsperspektiven, geht manchmal aber auch sehr weit ins Theoretische.

Deutlich handfester und informativer sind da die verbleibenden drei Beiträge des Sammelbandes. Barbara Stiller nimmt den in Mode gekommenen Begriff der Konzertpädagogik unter die Lupe. Sie fragt, was eigentlich dahinterstecke, welche Ziele mit Kinderkonzerten verfolgt würden und welche Qualifikationen die Durchführenden haben beziehungsweise haben müssten. Sie setzt hohe Erwartungen in die konzertpädagogischen Angebote, wenn sie verlangt, dass diese emotionale, sinnliche, motorische und kognitive Anregungen geben müssten. Entsprechend hoch seien die Anforderungen an die Konzertpädagogen, und so sieht sie die Notwendigkeit, sich interdisziplinär zu vernetzen und dialogischer zu arbeiten.

Endlich professionalisiert sich die Vokalpädagogik, kann sich Heike Henning freuen. Sie zeigt die vielen Initiativen zum Singen mit Kindern auf, stellt eine steigende Anzahl von Publikationen zum Singen mit Kindern fest, die sie exemplarisch vorstellt, und sieht sogar eine Etablierung des Fachs Kinderchorleitung an Hochschulen. Doch spart auch sie nicht mit kritischen Anmerkungen und Forderungen zur weiteren Verbesserung der musikalischen Bildung.

Vom Singen zum Instrument geht es im letzten Beitrag von Barbara Busch. Sie untersucht Instrumentalschulen als Spiegel der Kindorientierung. Vor allem in den Publikationen der jüngsten Zeit sieht sie die Gefahr, dass vor lauter Kind der eigentliche Gegenstand, die Musik, aus dem Blick gerate.

Fast alle Autoren sehen großen Forschungsbedarf auf ihren Feldern, beklagen die oft schnellen und nicht besonders fundierten Urteile über „Kindheit und Musik“ seitens der Politik und der Akteure. Gerade die oft angemahnte interdisziplinäre Zusammenarbeit lässt sich jedoch im vorliegenden Band (noch) nicht erkennen. Immerhin sind sich die Disziplinen und Forscher in diesem Rahmen näher gekommen, möge es entsprechende Folgen haben, damit sich musikalische Bildung von Anfang an entsprechend entwickeln kann.

Kindheit im Spiegel der Musikkultur. Eine interdisziplinäre Annäherung, hrsg. v. Barbara Busch/Christoph Henzel (Forum Musikpädagogik, Bd. 112), Wißner Verlag, Augsburg 2012, 158 S. Abb., Notenbsp., € 19,80, ISBN 978-3-89639-873-4

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!