Deutsche Orchester. Zwischen Bilanz und Perspektive, hrsg. von der Jungen Deutschen Philharmonie, ConBrio, Regensburg 2004, 160 S., € 18,90, ISBN
3-932581-66-0
Ganz anders der Kritiker Wolfram Goertz: er beschreibt im vorliegenden Band Deutschlands gegenwärtige Musikkultur als Krankenhausmärchen. Von den 168 Berufsorchestern, die es 1992 in Deutschland gab, haben nur 136 überlebt. Die Zahl der Orchesterplanstellen ging damit von 12.159 auf 10.311 zurück. Diese Krise entspringt nicht nur dem Sparzwang der Länder und Gemeinden, sondern kommt auch von innen, aus der Einengung des Repertoires und einer verbreiteten Routinehaltung der Musiker. „Die wirklich interessante Musik, bei der sich ein wacher Musikergeist beanspruchen lassen müsste, hat längst den Exodus aus dem sinfonischen Konzertalltag genommen.“ Goertz vermittelt plastische Einblicke in den Betrieb, in Fragen der Dienstverteilung, der Aushilfen, Sonderverträge und Nebentätigkeiten. Der typische Orchestermusiker opfere mit dem Dienstvertrag Kreativität und Eigeninitiative, um im Kollektiv zu funktionieren.
Die vor dreißig Jahren gegründete Junge Deutsche Philharmonie entwickelte das Gegenmodell eines demokratischen und selbstbestimmten Orchesters, das auch über die Programme und Arbeitsformen bestimmt. Fast ebenso wichtig wie die Arbeit im Tutti sind dabei die kleineren Formationen, wobei zeitgenössische Musik einen großen Stellenwert einnimmt. Mit neuen Vermittlungsformen versucht man neue Publikumsschichten zu gewinnen. Sind solche Forderungen noch aktuell? Um dies zu überprüfen, gab das Orchester eine Studie in Auftrag und ließ jetzige und frühere Mitglieder befragen. Dabei ergab sich, dass die Mitwirkung in diesem Orchester nicht nur für die gleichberechtigten Frauen positiv und karrierefördernd war. Mehrheitlich wurde eine gesteigerte Motivation zur künstlerischen Arbeit und überhaupt eine tiefere Beziehung zur Musik festgestellt. Trotz dieser positiven Bewertung überwog dann aber die Meinung, dass dieses Modell auf Berufsorchester nicht übertragbar sei. Es erfordere einen zu hohen Zeitaufwand und widerspreche außerdem der Mentalität der Orchestermusiker und der Praxis des Konzertlebens. „Demokratie ist anstrengend“, hatte Wolfgang Thierse im Vorwort bemerkt. Ist sie für deutsche Orchester vielleicht sogar zu anstrengend?
Obwohl die Forderung nach Mitsprache bei der jüngeren Musiker-Generation offenbar eine geringere Rolle spielt als noch vor zehn Jahren, haben sich einige Ideen aus der Jungen Deutschen Philharmonie durchgesetzt. Dazu gehören Vermittlungsformen
wie Familienkonzerte oder Einführungsveranstaltungen. Wolfram Goertz macht weitere Vorschläge, um die Orchester besser in einer Stadt zu verankern und auch unerfahrene Hörer für Klassik zu gewinnen. Warum gehen Orchestermusiker nicht zweimal im Jahr in die Fußgängerzone, fragt er, und machen dort Straßenmusik? Überhaupt müssten sie offensiver werden, wagemutiger, tatenlustiger. Auch Gerald Mertens, der Geschäftsführer der Deutschen Orchestervereinigung, möchte in Zukunft das Thema „Musikvermittlung“ noch offensiver durchsetzen, ohne sich dem Diktat der Quote zu beugen. Allerdings müssen im Orchester der Zukunft, so Karsten Witt, auch neue Organisationsformen und Kommunikationsstrukturen erprobt und durchgesetzt werden. Nur so könne das Repertoire erneuert und verbreitert, die Qualität gesteigert und dann auch die Mitsprache wieder attraktiver werden. Eine bloße Verbesserung des Orchestermanagements, wie von Mertens angemahnt, reicht dazu wohl nicht aus.
Das lesbar geschriebene, attraktiv gestaltete und durch persönliche Erfahrungsberichte bereicherte Buch blickt also nicht nur hinter die Kulissen der deutschen Orchester, sondern fragt auch nach ihren Zukunftsmöglichkeiten in einem mehr und mehr von Medien beherrschten Musikleben.