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Von der Rollenerwartung an den Künstler

Untertitel
Johannes Brahms und die Entkirchlichung der Religiosität
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Jan Brachmann: Kunst – Religion – Krise. Der Fall Brahms (Musiksoziologie, Bd. 12), Bärenreiter-Verlag, Kassel  u.a. 2003, € 34,95, ISBN 3-7618-1361-9

„Ein Werk, was sich in voller Schönheit darstellt, wirkt dadurch schon erhebend, trägt seine eigne Religion in sich und braucht nicht danach borgen zu gehen.“ Das Urteil, das Philipp Spitta in einem Brief an Johannes Brahms über dessen „Deutsches Requiem“ äußerte, ist bezeichnend für eine ganze Epoche – eine Epoche, die 1882 wie mit einem Paukenschlag durch Friedrich Nietzsches „Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet!“ charakterisiert wurde. In Jan Brachmanns Buch geht es um die Krise der Religion im 19. Jahrhundert, die eng verzahnt ist mit der Stilisierung einer „Kunstreligion“. Die Künste, ganz besonders die Musik, übernahmen Funktionen, die bislang der Religion vorbehalten waren. Im Schrifttum der Zeit wird die Musik zunehmend mit sakralen Begriffen bedacht, Musiker/-innen werden zu „Hohenpriestern der Kunst“, Konzerte zum transzendentalen Erlebnis.

Dieses Phänomen betrifft Johannes Brahms in besonderer Weise, hat er doch unter den „kanonisierten“ Komponisten des 19. Jahrhunderts nach Felix Mendelssohn Bartholdy die meisten Werke auf Bibel- und Choraltexte geschrieben. Zudem zieht sich die Frage der Religiosität wie ein Leitfaden durch seine Biographie – wobei seine scheinbar widersprüchliche Haltung zu Religion und Christentum für Urteile von „kern-protestantisch, aber nicht kirchlich“ bis zu „dem Wortlaut nach biblisch, aber nihilistisch oder atheistisch“ gesorgt haben. Ausgehend von dieser Widersprüchlichkeit wählt Jan Brachmann einen soziologischen Ansatz, der mehrere weitere Disziplinen berücksichtigt, um sich dem Phänomen der Kunstreligion im 19. Jahrhundert zu nähern und es auf die Musik von Johannes Brahms zu beziehen. In einem umfangreichen ersten Teil stellt er die Religionskrise im 19. Jahrhundert als Grundbedingung für die Herausbildung einer Kunst- und Bildungsreligion dar. Beeindruckend dabei sein breites Wissen, sein profundes Eingehen auf religionssoziologische, gesellschaftskritische und theologische Fragen. Brachmanns Rückgriff auf ausgewählte Literatur aus diesen Disziplinen ist stets reflektiert und logisch begründet: So greift er auf Vertreter der dialektischen Theologie des 20. Jahrhunderts zurück, um im Kontrast ihrer Kritik die Kunst- und Bildungsreligiosität des 19. Jahrhunderts hervorzuheben. (Wichtig wäre hier allerdings der Hinweis, dass Brachmann sich ausschließlich auf den Protestantismus bezieht. Der Katholizismus, der wesentliche Aspekte der Religionskrise im 19. Jahrhundert teilt, sich im Laufe des Jahrhunderts jedoch ganz anders entwickelt als der Protestantismus und in zunehmenden Gegensatz dazu gerät, bleibt in dieser Studie gänzlich ausgeklammert.) Ganz nebenbei bietet Brachmann außerdem einen Überblick über wesentliche Aspekte des romantischen Denkens – Idealismus, Liberalismus, Ironie, Ästhetisierung der Heilserwartung – und bindet sie ein in seine Darstellung einer generellen Entkirchlichung der Religiosität. Seinem Ansatz gemäß insistiert er immer wieder auf die sozialen Konsequenzen dieses Prozesses: die „religiöse Scham“ als soziale Kontrolle über das öffentliche Reden und Praktizieren von Religiosität, andererseits die Rollenerwartung an den Künstler, dessen Werk einige der Funktionen zugewiesen wurden, die vormals im Bereich der Religion angesiedelt waren. Vor diesem Hintergrund geht Jan Brachmann detailliert auf die Biographie und das Schaffen von Johannes Brahms ein. Sein besonderer Beitrag zur bereits bestehenden Brahmsforschung ist einerseits die exzellente soziologische Rückbindung, andererseits seine genaue Untersuchung der Lektürespuren in Brahms’ Bibliothek und der Nachweise einer individuellen religiösen Prägung in Brahms’ Notizbüchern. Die Erkenntnisse werden in detaillierter Analyse bestimmter Ausschnitte auf die Kompositionen von Brahms übertragen, und zwar weniger auf die geistlichen Werke, als auf die Instrumentalmusik, die in der Autonomieästhetik des 19. Jahrhunderts den ersten Rang einnahm. Seine Zielsetzung, diese Kompositionen „als eine bestimmte Weise der Reflexion auf die Probleme von Kunst als säkularer Religion und auf die Probleme einer religiös bestimmten Lebensführung in der „Moderne“ zu begreifen (S. 34), löst Brachmann mit diesen knappen Analysen überzeugend ein. Die Kapitel über „Ahnenbeschwörung“ und „Musik als Trost und Kontingenzbewältigung“ scheinen zunächst aus der stringenten Anlage des Buches herauszufallen, zumal mit ihren umfangreichen sozial- und religionspsychologischen Einführungen, deren Bezug zu Brahms zunächst nicht klar wird. Im Rückblick erweisen sich jedoch auch diese Aspekte in Brahms’ Schaffen als religiöse Funktionen seiner Musik.

Die abschließende „Gretchenfrage“ nach Brahms’ Religiosität scheint angesichts der vielen Widersprüche zunächst offen zu bleiben – bis Brachmann auf Grund seiner eingehenden Studien Merkmale formuliert, die bei Brahms einen „Typus von Religion, der sich gegen die Indienstnahme für eine klassische soziale Funktion [die ,Umweltstabilisierung‘] sperrt“ (S. 459), erkennen lassen. Der innovativste Zug in Brachmanns beeindruckender Darstellung ist die leitmotivartige Kritik an der – noch immer vorherrschenden – Vorstellung einer „autonomen“, das heißt funktionsfreien Musik und somit eines a-sozialen Kunstbegriffs im 19. Jahrhundert – eine Vorstellung, hinter der sich tatsächlich eine wesentliche soziale Funktionalität dieses Kunstbegriffes verbirgt, diente er doch dazu, latente religiöse Funktionen der Kunst zu kaschieren. Wer sich fortan mit dem Phänomen der Kunstreligion und Ästhetik einer „autonomen“ Musik im 19. Jahrhundert beschäftigt, wird an Jan Brachmanns Buch nicht mehr vorbeikommen.

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