Das Experiment als Ausgangs- und Endpunkt einer Gattung: Könnte so ein die Gattungsgeschichte der Oper umreißender Essay in, sagen wir, 100 Jahren überschrieben sein? Wer weiß, aber wahrscheinlich erweisen sich in der Rückschau die Auflösungserscheinungen, die Katja Schneider und Frieder Reininghaus am Schluss ihres Sammelbandes als „Furie des Verschwindens“ apostrophieren, lediglich als eine Tendenz unter anderen innerhalb einer erstaunlich vitalen Gattung.
Der Gegenstand dieses in der Reihe „Handbuch der Musik im 20. Jahrhundert“ erschienenen Bandes, den die Herausgeber mit dem Begriff „Experimentelles Musik- und Tanztheater“ zu umreißen versuchen, entzieht sich wahrscheinlich von vornherein dem Handbuch-typischen rubrizierenden Zugriff. Dennoch muss der Versuch, das Verschwinden eines roten Fadens, eines im engeren Sinne gattungsgeschichtlichen Zusammenhangs innerhalb dieses ohnehin nicht klar abgrenzbaren Repertoires von Strawinsky bis Klaus Lang durch eine extreme Aufsplitterung der Materie gerecht zu werden, wohl als gescheitert angesehen werden. Zu unterschiedlich in der Qualität und Aussagekraft sind die unzähligen Einzelbetrachtungen der 41 (!) Autorinnen und Autoren zu Werken, Komponisten oder Tänzern, zu selten wird die Möglichkeit genutzt, durch Querverweise auf bestehende oder wenigstens diskussionswürdige Verbindungen zwischen den verschiedenen Strömungen, auf Tendenzen oder längerfristige ästhetische Entwicklungen hinzuweisen. Meist ist dies jedoch ein Scheitern auf hohem Niveau, sodass der Band wenn schon nicht als Orientierung für Neugierige, so doch als Anregung für Eingeweihte seine Leserschaft finden dürfte.
Ein völlig anderes Bild ergibt sich naturgemäß für den ebenfalls bei Laaber erschienenen Band zum 17. Jahrhundert in der Handbuchreihe zur Operngeschichte. Silke Leopold hat den Schöpfungsmythos, der die Gattung gerne umgibt, gründlich auf den Boden der Tatsachen zurückgeführt und bekommt die Materie auch im weiteren Verlauf durch eine plausible thematische Bündelung bestens in den Griff. Nicht nur die italienischen Zentren der Opernpflege, auch einzelne Stoffgruppen wie die aus Mythologie oder religiösen Themen gespeisten Werke treten in den Fokus der Betrachtung, ehe auf die Entwicklungen in Frankreich, England und im deutschsprachigen Raum eingegangen wird. Immer wieder konkretisiert die Autorin dabei ihre Thesen an exemplarischen Analysen von Operntexten und deren musikalischer Umsetzung. Lebendige Musikgeschichtsschreibung an einem faszinierenden Gegenstand. Hochinteressant wäre freilich noch ein Kapitel zur Aufführungspraxis dieses Repertoires gewesen, das durch Originalklang-Spezialisten gerade in den letzten Jahren eine breitere Zuhörerschicht erreicht hat.
Wer den Blick gerne auch nach Spanien gerichtet gesehen hätte, wird in einer anderen Publikation fündig, die allerdings dort beginnt, wo Silke Leopolds Darstellung endet. Rainer Kleinertz erhellt mit großer Anschaulichkeit, wie das spanische Musiktheater im 18. Jahrhundert einen eigenständigen Weg zwischen den nationalen Traditionen des Sprechtheaters und der Zarzuela auf der einen und den italienischen Gattungsausprägungen auf der anderen Seite gefunden hat. Gleichzeitig zeigt er eindrucksvoll die politischen Funktionen auf, die der Gattung in den wechselvollen dynastischen Konstellationen zukamen. Ein bisher weißer Fleck auf der Landkarte der Musikhistorie – hier hat er Farbe und Kontur bekommen.
- Experimentelles Musik- und Tanztheater, hg. von Frieder Reininghaus und Katja Schneider, Laaber Verlag 2004, 391 Seiten,
€ 98,-, ISBN 3-89007-427-8 - Silke Leopold: Die Oper im 17. Jahrhundert, Laaber Verlag 2004, 344 Seiten, € 108,-, ISBN 3-89007-134-1
- Rainer Kleinertz: Grundzüge des spani-schen Musiktheaters im 18. Jahrhundert, Edition Reichenberger, Kassel 2003, 2 Bde., 339/328 Seiten, € 89,-, ISBN 3-935004-74-5