Die Musikwissenschaft als institutionalisierte Disziplin entwickelte sich in Russland erst in den 1920er-Jahren unter den Voraussetzungen und Bedingungen des neuen Sowjetstaates. Sie zeigte sich dabei nicht in erster Linie als eine historisch-philologische Disziplin, sondern war offen für gesellschaftswissenschaftliche Fragestellungen aller Art. Letztere bestimmten als „musiksoziologisches Forschungsparadigma“ das Fach bis zirka 1930. Das rief sowohl Forschungen von beachtlichem Reflexionsniveau auf den Plan als auch eher „vulgärsoziologische“ Zugänge, die darauf aus waren, Phänomene der Musik mechanisch auf gesellschaftlich-ökonomische Verhältnisse zurückzuführen, das heißt als deren Widerspiegelung.
Selektive Wahrnehmung
Unter den zahlreichen musiktheoretischen Konzeptionen der Zeit gibt es nicht wenige von Rang und Wirksamkeit (in Russland), die im Westen entweder überhaupt nicht oder nur unzureichend zur Kenntnis genommen wurden. Die Rezeption war, nicht zuletzt auch der Sprachbarriere geschuldet, selektiv und beschränkte sich bei meist marxistisch orientierten Forschern auf ideologisch konforme Arbeiten, die jedoch nur einen kleinen – und den vielleicht weniger interessanten – Teil der frühen sowjetischen Musikwissenschaft ausmachten. Damit verfestigten sich im Westen Zerrbilder, denen die Autorin mit einer Art Ehrenrettung ausgewählter sowjetischer Musikkonzepte begegnen möchte.
Der Titel der Untersuchung ist irritierend, denn der ebenso offene wie zentrale Begriff „Musiksoziologie“ wird nicht präzise gefasst. Tatsächlich geht es nämlich um vielfältige musikwissenschaftliche und -theoretische Konzeptionen, nicht um „Musiksoziologie“ im engeren Sinn. Und die angekündigten „Anfänge der Musiksoziologie“ erschöpfen sich in Hinweisen auf Bezüge zu vorwiegend französischen Quellen mit dem Befund eines Vorhandenseins aktueller kunstwissenschaftlicher Strömungen in Russland an der Schwelle zum 20. Jahrhundert (vgl. S. 109). Das ist ein jedoch wenig spezifischer Befund, denn selbstverständlich empfingen die in der Mehrzahl entschieden modern und international orientierten, oft auch vom sowjetischen Aufbaupathos beseelten russischen Musikwissenschaftler mannigfache Anregungen aus der westlichen Literatur – die sie dann zum Teil auf recht eigene Weise verarbeiteten und für ihre Konzeptionen fruchtbar machten.
Am ehesten können noch die neuen Ansätze der Musikgeschichtsschreibung (bei Anatoli Lunatscharski, Boris Assafjew und Roman Gruber) dem Bereich „Musiksoziologie“ zugeordnet werden, insoweit sie ausnahmslos weniger dem musikalischen Kunstwerk als solchem, musikhistorischen Entwicklungen oder Stilfragen nachgehen, sondern nach deren gesellschaftlichen Voraussetzungen und Rezeptionsweisen fragen. Anders verhält es sich bei der Musikkonzeption von Boleslaw Javorski (1872–1942), die wesentlich auf (naturwissenschaftlich-)psychologischen Voraussetzungen des Hörens gründet und Tonsatz nicht vom Ruheklang (Dreiklang) aus denkt, sondern vom sonanzstärksten Intervall des Tritonus und dessen Auflösung(en). Erst wo diese originelle Konzeption sich zur Hörgeschichte weitet („Akkumulation von Hörerfahrungen“; S. 116) und Perspektiven einer innovativen (und spekulativen) Musikgeschichtsschreibung erkennen lässt (ohne Werke und Komponistennamen), könnten unter Umständen auch soziologische Aspekte geltend gemacht werden.
Überdehnter Begriff
Noch zweifelhafter erscheint es, die Musikphilosophie von Aleksej Losev (1893–1988) als „Musiksoziologie“ zu bemühen. Denn als Neuplatoniker deutet Losev die Musik architektonisch, aus der kosmischen Wirkkraft von Zahlen und Zahlenkonstellationen. Die Autorin kommentiert: „Losevs Musikkonzept reißt die Tonkunst bzw. ihr Produkt aus den gesellschaftlichen Zusammenhängen heraus. In seinen Augen ist Musik form- und zeitlos und widersetzt sich jeder anderen dem Menschen zugänglichen materiellen Gestaltung.“ Dass hier von „Musiksoziologie“ nicht die Rede sein kann, ist ihr bewusst, was sie dann zu einer eher hilflos anmutenden Volte führt: „Das ist musiksoziologische ‚Antikonzeption‘, die nichtsdestoweniger mehrere soziologisch relevante Fragestellungen [welche?] beinhaltet.“ (S. 118) Hier wird klar, dass der Begriff „Musiksoziologie“ in einer Weise überdehnt ist, dass er letztlich unspezifisch und damit beliebig wird.
Verdienstvoll ist die Untersuchung in der Darstellung und Deutung einer Auswahl wichtiger und für den russischen Kontext geschichtswirksamer musikwissenschaftlicher Konzepte, die den Feldern Musikgeschichtsschreibung, Musiktheorie, Musikphilosophie und Musikästhetik angehören. Die Auswahl ist plausibel, ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Soziologische Aspekte und Implikationen spielen am Rande eine Rolle, sind aber kaum je zentral. Musiksoziologisches im Engeren klingt an bei der Beschreibung von Übernahmen marxistisch-ökonomischer Grundbegriffe in die Musikgeschichtsschreibung („Musik als Ware, Hörer als Konsument“, „Musikproduktion“ u.a.; S. 254 ff.) sowie bei der Ausdifferenzierung der Termini „Soziologisieren“ und „vulgäre Soziologie“ (S. 284 ff.). Erhellend ist schließlich die Skizze zur Institutionalisierung der Teildisziplin „Musiksoziologie“ innerhalb der russischen Musikwissenschaft an Moskauer und Leningrader Lehranstalten (S. 292 ff.).
Die Untersuchung zeigt, wie intensiv die russische beziehungsweise russisch-sowjetische Musikwissenschaft der Jahre 1900 bis 1930 mit den westlichen Diskursen des Faches (und darüber hinaus) vertraut war und sich teils produktiv von ihnen abstieß. Nach 1930 war sie dann jedoch anwachsender Reglementierung durch die sowjetische Kulturpolitik ausgesetzt, verschloss sich nach außen hin und gab weitgehend den Geist schöpferischer Auseinandersetzung auf.
Dem Buch beigegeben ist ein 80-seitiger Dokumentenanhang, der zentrale Texte in der Übertragung (der Autorin) ins Deutsche enthält. Von grundlegender, nicht nur historischer Bedeutung erscheint der umfangreiche Aufsatz „Bestimmung der musikalisch-künstlerischen Begriffe aus sozioökonomischer Sicht“ (1925) des Musikhistorikers Roman Gruber (1895–1962) – ein programmatischer Traktat, der methodisch differenziert Aufgaben und Grundbegriffe einer wenn nicht marxistisch fundierten, so doch inspirierten Musikwissenschaft formuliert.
Nowacks Buch macht aufmerksam auf bedeutende Exponenten und Arbeiten der frühen sowjetischen Musikwissenschaft, die teils zu Unrecht in Vergessenheit geraten (und außerhalb Russlands kaum bekannt) sind. Wer sich für die frühe russisch-sowjetische Musik in ihrem ideologischen Kontext, gleichsam für ihren Überbau interessiert, wird dieses Buch mit Gewinn lesen und eine Vielzahl an Anregungen erhalten.
- Natalia Nowack: Anfänge der Musiksoziologie. Russisch-sowjetische Quellen, 1900–1930, Peter Lang, Frankfurt a.M. u.a. 2017, 521 S., € 89,95, Abb., Nbsp., ISBN 978-3-631-67234-1