Das Beste kommt zum Schluss: In einer Lesefassung gibt es Herman Melvilles Klassiker „Moby Dick“ schon seit längerem, jetzt hat Regisseur Klaus Buhlert die obsessive Jagd nach dem Weißen Wal in ein fast zehnstündiges Mega-Hörstück verwandelt, das es auf MC und CD gibt und das vorbereitet durch fünf essayistische Erkundungen, beim BR über den Äther ging.
Moby Dick“ ist beides: Mythos und Metapher einer Welt ohne Gott (oder mit einem nur noch fernen, nur noch zürnenden Gott), die erfüllt ist von Ängsten und Traumata und einem Begehren, das so insistent und ohne Rücksicht ist, dass es nicht weniger fürchterlich scheint als die Phobien und sonstigen „Engramme“ einer nachhaltigen Erschütterung; aber eben auch eine fast schon dokumentarische, ungeheuer detailverliebte Studie über die Arbeitsbedingungen und Mentalitäten der Walfänger im 19. Jahrhundert. Der Existenzialismus war nicht erst eine neu-pathetische Erfahrung der Zwischenkriegszeit (Heideggers „Sein und Zeit“) oder eine jähe, ganze Generationen erfassende und das Alltagsleben revolutionierende Mode des Nachkriegs (das Saint Germain Sartres, Boris Vians und der Gréco), er begann schon ein Jahrhundert früher in den halt- und bodenlosen Notaten Kierkegaards und in Melvilles wahrhaft unheimlichem, abgründigen Roman. Wer jüngst die Dokumentation über den RAF-Terroristen Holger Meins alias „Starbuck“ gesehen hat, der weiß, dass es alles andere als ein Zufall ist, dass sich der harte Baader-Meinhof-Kern in der Aussichtslosigkeit der Stammheimer Isolationshaft die Maske des „Moby Dick“-Personals überzog: Wenn man nur lang genug an der glatten Oberfläche kratzt, erscheint in den meisten Leben ein weißer Wal.
Auf seine Weise ist auch Günter Grass ein Obsessiver: ein Kind der Nazi-Jahre, besessen von der Ergründung der Geschichte, die sich nicht wiederholen soll. Nicht immer waren seine Roman-Recherchen in den letzten Jahrzehnten stimmig und spannend oder auch nur auf der Höhe des „State of the art“, oft erstickte die Ambition oder auch nur die gute Absicht den Text. Aber anscheinend hat ihn der Nobelpreis freier gemacht. „Im Krebsgang“, also in immer neuen Ausweichbewegungen, souverän die Zeiten und Orten wechselnd, verknappend und collagierend, erzählt er nicht nur die Geschichte des einstigen „Kraft durch Freude“- und späteren Flüchtlingsschiffes „Wilhelm Gustloff“, das Anfang des Jahres 1945 von der Sowjet-Marine torpediert wurde und mit zehntausend Menschen auf den Grund der Ostsee sank, sondern auch aller Beteiligten: des Auslandsnazi-Chefs, der einem Mordanschlag zum Opfer fiel und einem Schiff den Namen gab, das ursprünglich „Adolf Hitler“ heißen sollte, seines jüdischen Attentäters, des sowjetischen U-Boot-Kommandeurs und des späten Chronisten, der auf dem Schiff zur Welt kam, als es zu sinken begann. So entsteht ein wildes, auch wirres Fresko der Katastrophengeschichte des vergangenen Jahrhunderts, seiner Irrtümer, „untergehenden“ Sehnsüchte, seiner Verbrechen und Verdrängungen, das am Ende, wenn man Grass (er liest selbst und sehr gut!) zwölf Kassettenseiten lang zugehört hat, einiges klarer macht.
Dass Marcel Prousts Prosa reine Musik ist, Wort-Musik, deren Suggestion prä- oder trans-semantisch ist – das ist ein wenig banal, auch wenn es zweifellos zutrifft.
Worin aber besteht nun jenseits der affektiven Anmutung genau die Gemeinsamkeit zwischenProust’ scher Prosa und Musik? Zunächst und vor allem in ihrem Verhältnis zur Zeit. Musik ist selbst dort noch, wo sie es bestreitet oder negiert, nichts anderes als Organisation zeitlicher Abläufe. Reine Präsenz kann es musikalisch höchstens in einem metaphorischen Sinn geben. Das, was gerade erklingt, erhält seine Struktur, seine Kraft und Bedeutung aus dem, was schon „verklungen“ ist – , aber eben nicht, ohne einen „Rest“ im Gedächtnis zu hinterlassen –, und der gespannten Erwartung dessen, was folgen wird.
Husserl hat in seinem Buch „Die Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins“ gezeigt, wie Musik, aber auch Subjektivität sich der Tatsache verdankt, dass nicht jede Wahrnehmung gleich gegenwärtig ist. Beide entstehen auf eine sehr fragile, gefährdete, „ekstatische“ Weise aus der feinen, immer wieder neuen und anderen Abstufung von Präsenz und Absenz.
Was Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ zum wahrscheinlich wichtigsten Roman des 20. Jahrhunderts macht, ist die Präzision, mit der er vorführt, wie individuelle und kollektive Erfahrung entsteht. Die „Recherche“ ist ein Bildungs- und Gesellschaftsroman, – wenn auch nicht mehr im Sinn des 19. Jahrhunderts. In „Swanns Welt“ ist nichts mehr selbstverständlich und vorgegeben, alles entsteht und vergeht, während wir uns erinnern und reden. Reflexion und Kommunikation sind wichtiger als die Dinge und Erfahrungen, die in ihrem Strom zerfallen. Proust untersucht die Gesetzmäßigkeiten des Gedächtnisses und zeigt, dass das, was wir für unser Selbst und unsere Welt halten, Resultat von Konventionen und Kodierungen ist, die wir mit anderen teilen.
Dennoch ist er nicht ein Anthropologe oder Soziologe, der das Individuum für eine „quantité négligeable“ hält. Was ihn am meisten fasziniert, ist der Mythos eines Lebens: Was wir sind, ist das, was durch uns hindurchgeht. Was Sinne und Semantik uns zutragen, ist kontingent – und einmalig. Prousts „Recherche“ ist die Geschichte einer großen Durchlässigkeit – samt all der Chancen und der Schrecken, die sich daraus ergeben. Schon der Anfang von „Swanns Welt“ gibt die Themen vor, die der große Romanzyklus variiert: Der kleine Marcel ist eingeschlafen und meint, er sei wach. Er träumt; und wird eins mit den Dingen, die an ihm vorbeiziehen. Er zeigt, wie gewaltsam und unwahrscheinlich all die Trennungen sind, die Selbstbewusstsein und Rationalität begründen. Er demonstriert, wie lücken- und larvenhaft unsere Umwelt, auch die anderer Menschen zunächst ist – und wie wir sie mit unseren Phantasien und Vorurteilen, unseren Wünschen und Ängsten auffüllen.
Diese „Recherche“ geht nicht von einer „ganzen“ Welt aus – sie erzählt äußerst subtil, wie sie nach und nach entsteht. Die Zeit und unser Verhältnis zu ihr wird dabei zum großen Erbauer und Zerstörer der Welten, in denen wir leben. Es ist nicht die leere, die mathematische oder mechanische Zeit, in der sich die Musik und Prousts Prosa entfalten, sondern die dichte, verschachtelte, auch zerrissene und neu verklebte, die montierte und die wuchernde Zeit, die Zeit der Erschütterung der Sinne, die Zeit des imaginären Fließens und der symbolischen Wiederkehr. Eine Zeit, die man in ihrer gefräßigen Macht heftiger und unmittelbarer erfährt, wenn man zuhört, als wenn man selber, „autonom“, stockend oder springend liest.
Bei Prousts „Recherche“ ist das Hörbuch nicht einfach eine andere, in vielen Fällen bequemere Weise des „Lesens“, sondern die gemäßere, authentischere Form.
Herman Melville: Moby Dick, Inszenierung: Klaus Buhlert, 8 MCs oder 10 CDs, € 49.95
Günter Grass: Im Krebsgang, gelesen vom Autor, 6 MCs, € 79,95
Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. In Swanns Welt. Gelesen von Peter Matic. 18 CDs, € 164,00 Alle im Hörverlag