Hugo Distler: Sämtliche Schriften. Band 1: Texte und Kommentare, Band 2: Funktionelle Harmonielehre Reprint, hrsg. von Sven Hiemke, Bärenreiter, Kassel 2024, XXII, 354/71/44 S., € 99,00, ISBN 978-3-7618-2489-4
Wertvolle Zeitzeugnisse
Hugo Distler und seine Schriften sind aus vielerlei Gründen hochinteressant. Wir haben es hier mit einem Vorkämpfer der Erneuerungsbewegung mit ihrer Orientierung an der Musik des 15. und 16. Jahrhunderts zu tun. Mit einem evangelischen Kirchenmusiker in den unrühmlichsten Zeiten der evangelischen Kirche, einem Nationalisten ohne rassischen Nationsbegriff, einem sprachgewandten Mann, der seine Ansichten stets zu Wort kommen lässt und einem Komponisten, der eng verbunden ist mit der Schule Regers und Hindemiths, aber auch die Werke Arnold Schönbergs als „wegweisend“ einschätzt. Der erste von zwei Bänden mit sämtlichen Schriften Distlers enthält Rezensionen, Zeitschriftenartikel, Pressemeldungen und Veranstaltungsankündigungen, Vor- und Nachworte zu seinen Opern, die Libretti zu seinen Kantaten sowie eine Programmschrift zu einem Orgelumbau. Der zweite Band enthält seine funktionelle Harmonielehre.
Distler war in der ausgehenden Weimarer Zeit und dem NS-Staat in zahlreiche geistige Strömungen eingebunden und die Auseinandersetzungen dieser Strömungen untereinander lassen sich in seinen Schriften exemplarisch nachvollziehen. Die Kommentare sind mit Quellen aus Distlers Briefverkehr gestützt und belegen eine tiefe Einsicht in das deutsche Musikleben dieser Zeit. Sie leisten hervorragende Arbeit, wenn es darum geht, Distlers Meinung zur NSDAP zu kontextualisieren und machen aus seiner Bewunderung für Hitler sowie seiner Sympathie für bestimmte Ziele der nationalsozialistischen Bewegung keinen Hehl. Ebenso sorgfältig arbeitet der Herausgeber Sven Hiemke die Feinheiten der Sprache Distlers nach der Machtergreifung Hitlers heraus – seine Sorgfalt, sich nicht angreifbar zu machen.
An einer zentralen Stelle versagt der Kommentar allerdings: Wenn es darum geht, die Erneuerungsbewegung, ihre Betonung des „Volksgeists“, ihren Nationalismus und ihre Ablehnung der Avantgarde sowie den stark propagierten Antiindividualismus in dieselbe Geistesströmung wie den Nationalismus der DNVP beziehungsweise der NSDAP zu stellen. Stattdessen ist an vielen Stellen – völlig zutreffend – ausgeführt, was die beiden „Bewegungen“ voneinander trennt. Von ideologischen Gemeinsamkeiten und einer kritischen Einordnung beider Strömungen in die Tradition des deutschen Nationalismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts ist so leider nie die Rede. Dabei ist das vielleicht das interessanteste, was Distlers Artikel leisten können: Sie bieten einen Einblick in das deutsche Geistesleben, das unmittelbar zur Legitimierung nationalsozialistischer Ideologie beigetragen hat.
So kann man hier einsehen, wie der National(sozial)ismus mit den akademischen Strömungen seiner Zeit verbunden ist und das an einer vielfältig aufgestellten Schnittstelle: dem Menschen Hugo Distler. Dieser ist in die Theologie, die Germanistik, die Musikwissenschaft und die Kulturpolitik der Zeit eingebunden und ein mehr als passabler Schriftsteller – also eine hervorragende Quelle aus erster Hand zu diesem Themenkomplex.
So sind auch Distlers Aufsätze sehr lesenswert, gewinnt man hier doch Einblick in die Zusammenhänge zwischen evangelischer Theologie, Theorien zum „Volk“ und der Kirchenmusik. Distler macht hier deutlich, warum die NSDAP sich auf Luther auch über seinen Antisemitismus hinaus berufen konnte und appliziert diese ideellen Prinzipien auf seine Vision von Gebrauchsmusik. Luthers Choräle interpretierte schon Richard Wagner als Ausdruck eines deutschen Volksgeists, das von Distler dankend aufgenommen wird, indem er Luther als den Mann lobt, der „dem Volk aufs Maul“ geschaut hat. Hinzu kommt Distlers allgemeine Bewunderung für eine Zeit, in der das Subjektivitätsprinzip noch nicht die zentrale Bedeutung wie heute eingenommen hatte. Eine verrohte Form dieser Position vertrat die NSDAP bekanntlich auch. Eine Anleihe an Hindemiths Ideal des Handwerkers anstatt des individuellen Genies ist unverkennbar und passt exakt in die Zeit.
Die Harmonielehre aus dem zweiten Band ist ein interessantes Kompendium für alle, die sich reflektierend mit der Wiederbelebung alter Musik beschäftigen. Es handelt sich dabei um eine an Riemann anknüpfende funktionelle Harmonielehre, die sich auch an modalen Konzepten orientiert – kein Lehrwerk allerdings für heute. Wer aber lernen möchte, wie die Erneuerungsbewegung Harmonik konzeptualisiert hat, wird hier fündig.
Die zwei Bände sind als Zeitzeugnisse also von überaus großem Wert. Sie bieten Einblick in die geistigen Hintergründe der größten Katastrophe deutscher Geschichte, sehr gut formulierte Texte, mit denen Distler sich nicht einfach in klare ideelle Kategorien einteilen lässt. Abgesehen von den genannten Einschränkungen sind die Kommentare sehr lesenswert.
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